Ricci/Forte-Portrait

École-des-Maîtres_ricci_forte-©-Daniele-Virginia-Antonelli
École-des-Maîtres_ricci_forte-©-Daniele-Virginia-Antonelli

Nach ihrer Ausbildung an der Silvio D'Amico Accademia Nazionale D'Arte Drammatica in Rom und an der New York University, studierten Stefano Ricci und Gianni Forte, alias Ricci/Forte, Szenisches Schreiben mit Edward Albee. Sie erhielten verschiedene Drama-Auszeichnungen wie Premio Studio 12, Oddone Cappellino, Vallecorsi, Fondi-La Pastora, Hystrio und Gibellina-Salvo Randone.

Ricci/Forte nahmen an zahlreichen italienischen Festivals wie Romaeuropa, Garofano Verde, Castel dei Mondi, Festival delle Colline Torinesi usw. teil sowie an internationalen Theaterfestivals weltweit, zum Beispiel in Frankreich (Rouen/Scène Nazionale Petit-Quevilly, Marseille/Festival Actoral, Nantes/Le Lieu Unique, Paris/La Ménagerie de Verre, Lyon/Europe & Cies, Vanves/Artdanthé, Bobigny/MC93-Festival Le Standard Idéal), Belgien/Trouble Les Halles de Schaerbeek, Kroatien (Zagreb Queer+IKS), Slowenien/Mladi Levi, Rumänien/Underground, England/Lingering Whispers, Deutschland (Berlin/Glow, Wiesbaden/Neue Stücke aus Europa), USA/QNY International Arts Festival, Moldawien/BITEI, Schweiz/Luganoinscena, Bosnien-Herzegowina (Sarajevo/MESS, Visoko), Spanien (Madrid/Escena Contemporanea, Murcia), Russland (Moskau/Territoria + NET), Türkei/New Text New Theatre, Portugal/Almada, Brasil/FILO.

Das Duo hat Workshops und Meisterklassen in Italien, Brüssel, Frankreich, der Türkei, Russland und Kroatien gehalten. 2014 wurden sie zu Masters of the École de Maîtres ernannt.

Ihre Arbeit hat auch andere Künstler inspiriert. So hat zum Beispiel Simon Delétang Macadamia Nut Brittle im Espace Malraux Scène Nationale/Chambéry inszeniert. Massimo Popolizio hat 2009 ihren Ploutos Text (inspiriert von Aristophanes) auf der Venedig Theater-Biennale in Szene gesetzt und dafür den Preis für Best Play erhalten. Abbastarduna wurde von David Bobée in Bernardine/Marseille inszeniert. 2015 wurde Troia's Discount von Nenad Glaven im ZKM Theater in Zagreb/Kroatien auf die Bühne gebracht.

 

Ricci/Fortes Kreationen umfassen:

  • 2006 Troia’s Discount

  • 2007 MetamorpHotel and wunderkammer Soap

  • 2008 100% Furioso

  • 2009 Pinter’s Anatomy and Macadamia Nut Brittle

  • 2010 Troilus vs. Cressida and Some Disordered Christmas Interior Geometries

  • 2011 Grimmless

  • 2012 Imitationofdeath

  • 2013 Still Life

  • 2014 Darling

  • 2015 A Christmas Eve (ihre erste Oper am Teatro San Nicolo/Spoleto)

  • 2016 PPP Ultimo Inventario Prima di Liquidazione (wird Ende Januar 2016 die Weltpremiere am Teatro Palamostre/Udine feiern)

Ricci/Fortes Arbeit wird durch Koproduktionen zwischen Romaeuropa Festival, CSS Teatro stabile di innovazione del FVG, Festival delle Colline Torinesi und Central Fies unterstützt.


 

 

Rita Maffei:

Ricci/Forte sprechen die Herzen der Menschen direkt an

 


 

 


Roman Dolzhanskiy:

Ein spezieller, angefochtener Getränkemix

 


 

 

Sergio Ariotti & Isabella Lagattolla:

„Man kann nicht immer die gleichen Formeln wiederholen“

 

 

Patrick Sommier: Ricci/Forte reformieren die Geschichte der Performance


Scrollen Sie bitten hinunter zu den Interviews.

Auf Ihr Feedback freue ich mich! Sehen Sie bitte auch die englische Version.


Der Blick hinter die Maske

 

Meine erste Begegnung mit Stefano Ricci und Gianni Forte fand am unwahrscheinlichsten aller Orte statt: in Chişinău, der Hauptstadt der Republik Moldau - und bekräftigte damit einmal mehr die internationale Bekanntheit des Ricci/Forte performance arts ensemble. Troia's Discount stand auf dem Programm, begann aber - aufgrund eines unerwarteten technischen Problems - mit einer zweistündigen Verspätung. Erstaunlicherweise wartete das Publikum geduldig, bis die Aufführung losging, denn die Uhren ticken anders in diesem osteuropäischen Land.

Für mich war es, trotz allem, eine Erfahrung ohnegleichen. Die völlige Hingabe der Darsteller, die überraschenden Regieeinfälle und die außergewöhnlichen Szenen, die sich auf der Bühne entfalteten, faszinierten mich. Und damit begann meine Entdeckungsreise durch Ricci/Fortes Universum. Wie stark mein Innerstes davon berührt war, sollte ich später erfahren.

Etwa ein Jahr darauf hatte ich ein weiteres unvergessliches Erlebnis in Turin. Imitationofdeath wurde am Eröffnungsabend des Festivals delle Colline Torinesi gezeigt und sorgte für ein volles Haus in der Fonderie Limone Moncalieri. Erneut machten sich widersprüchliche Gefühle in mir breit und ich fühlte mich immer mehr von dem gleichermaßen poetischen wie aggressiven Stil des charismatischen Künstler-Duos angezogen. Ich musste auf jeden Fall mehr darüber erfahren, dieser Faszination auf den Grund gehen. Umso willkommener war ein Workshop, der am nächsten Tag stattfand. Während mehrere aufgeweckte und fröhliche Gesichter die Räumlichkeiten des Festival-Hauptsitzes füllten, bereiteten Stefano Ricci und Gianni Forte die Ausstrahlung ihrer kurzen Videoclips vor. Es sollte aber nicht der übliche Workshop werden. In der Tat glich es mehr einem Treffen intimer Freunde.

Zuerst versuchte ich mich hinter meinem Journalistenberuf zu verstecken, bemerkte aber Giannis scharfen Blick, der mir keine Wahl ließ. Du auch, Irina", forderte er mich auf, „nimm Platz, wähle drei Gegenstände, die dir am Herzen liegen, aus deiner Handtasche heraus und vertraue uns ihre Geschichten an. Zweck dieses Workshops ist, die echte Person hinter der Maske hervorzuholen“. Wie alle anderen Teilnehmer drehte auch ich meine Handtasche auf den Kopf und entleerte den Inhalt auf den Boden. Dabei beobachtete ich die anderen, die ihre Habseligkeiten eifrig aussortierten. Ungewöhnliche Geschichten offenbarten sich unter dem unerbittlichen durchdringenden Blick der beiden Künstler, sodass wir immer mehr voneinander erfuhren. Jede unserer Performances ist mehr als nur eine Show. Sie ist die Reise einer Menschengruppe“, sagte Stefano Ricci.

Seitdem bin ich zu verschiedenen Orten hingereist und habe zahlreichen Shows von Ricci/Forte beigewohnt. Ihre Bemühung, die Macht der Fantasie wiederzubeleben, ist nicht vergeblich. Das funktionierte zumindest in meinem Fall. Ich lade Sie ein, liebe Leser, Ihr Hirn in der Garderobe zu lassen, Ihr Herz zu öffnen und die Reise zu genießen. Denn Ricci/Fortes Theater ist ein authentisches Erlebnis der Extraklasse.


(Beitrag zur 20. Jubiläumsausgabe des Festivals delle Colline Torinesi - Juni 2015)


Ricci/Forte sprechen die Herzen der Menschen direkt an

 

Rita Maffei ist Schauspielerin und Regisseurin. Seit 1987 arbeitete sie als Schauspielerin mit Cesare Lievi, Elio De Capitani, Marco Baliani, Massimo Navone, Lorenzo Salveti, Andrea Taddei, Luigi Lo Cascio, Alessandro Marinuzzi, Antonio Syxty, Giardini Pensili, Giuliano Scabia, Gigi Dall'Aglio, Giuseppe Emiliani. Sie inszenierte zahlreiche Performances in Italien und im Ausland (Frankreich, Belgien, England, Iran, Indien, USA). Dabei hat sie sich immer der Gegenwartsdramatik verschrieben. Für 2016 wird sie für eine Zugreise von Udine nach Rom in zwölf Folgen, ähnlich der von Pier Paolo Pasolini 1950 unternommenen Fahrt, verantwortlich zeichnen. Maffei hat Bücher über das Theater publiziert und mehrere Preise gewonnen. Sie ist die italienische Verantwortliche der École des Maîtres von 1999-2003 und von 2006 bis jetzt. Seit 2014 ist sie künstlerische Beraterin für die Theater-Sparte des Mittelfest-Festivals in Cividale de Friuli. Seit 1999 ist sie künstlerische Leiterin des CSS Teatro stabile di innovazione del FVG, in dessen Räumlichkeiten dieses Interview geführt wurde.

 

Beginnen wir ganz am Anfang. Wie war Ihre erste Begegnung mit Ricci/Forte?

 

Rita Maffei: Das erste Treffen fand 2006 statt. Wir haben viele Jahre den Candoni-Preis für neue Dramatik organisiert. Candoni war Friulaner und hat als Erster Ionesco und Beckett ins Italienische übersetzt. Damals gab es in Italien ein Theaternetzwerk, das aus sieben Häusern bestand, die für diese Auszeichnung zusammenarbeiteten. Ziel war es, einen Text gemeinsam zu produzieren und aufzuführen. Jedes Theater machte einen Vorschlag für einen Autor. Antonio Calbi, damaliger Leiter des Teatro Eliseo (heute Direktor des Teatro di Roma), schlug einen Text von Ricci/Forte vor, und zwar Troia’s Discount. So kam das Künstler-Duo zum ersten Mal zu uns nach Udine, zum Teatro San Giorgio. Dort haben wir Stefano Ricci und Gianni Forte kennengelernt. Seitdem setzten wir uns leidenschaftlich für ihre Arbeit ein und folgten ihnen fast überall hin, um ihre Performances zu sehen. Gleichzeitig haben wir sie weiterhin zu uns, nach Udine, eingeladen.

So zum Beispiel 2009, als wir ein Jahr nach Pinters Tod das Festival Living Thingsdem verstorbenen Dramatiker widmeten. Mehrere Künstler inszenierten unterschiedliche Texte von Pinter in allen Räumlichkeiten des Teatro San Giorgio. Es wurde überall gespielt: auf und unter der Bühne, im Parkett (die Sessel waren entfernt worden), in der Umkleidekabine, in den Probenzimmern. Sogar außerhalb des Theaters. So fuhren zum Beispiel in Victoria Stationjeweils sechs Personen mit einem British cabdurch die Stadt. Alle Performances wurden gleichzeitig aufgeführt. Ricci/Forte zeigten unsere erste gemeinsame Koproduktion, die in der Umkleidekabine für jeweils drei Zuschauer mehrmals am Tag spielte. Alle Künstler arbeiteten direkt mit Pinters Texten, bis auf Ricci/Forte. Sie kreierten ihre eigene Interpretation, die sie Pinter's Anatomynannten. 2012 folgte Imitationofdeath,unsere zweite Koproduktion. Ein Jahr später waren wir Gastgeber von Still Life. So gab es ein kontinuierliches Kennenlernen. Unsere letzte Koproduktion war Darling. Und es entstammt auch der Wunsch, sie 2014 zu den Meistern der École des Maîtres zu ernennen.

 

Welches waren die ersten Reaktionen des Publikums in Udine? Und wie haben sich diese weiterentwickelt?

 

R.M.: Das Publikum ist sehr angetan von Ricci/Forte. Das war schon immer so. Ich erinnere mich, dass die Menschen mit Tränen in den Augen Pinter's Anatomy verließen. Die Zuschauer waren von der Aufführung sehr mitgenommen. Es handelte sich dabei um eine Inszenierung mit drei Performern, und das Publikum bestand ebenfalls nur aus drei Personen. Das vermittelte den Eindruck, dass die Schauspieler die Zuschauer persönlich ganz unmittelbar ansprachen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Seitdem gibt es bei jeder Vorstellung von Ricci/Forte im Teatro Palamostre in Udine ein volles Haus und herzliche Reaktionen. Ein weiterer Grund ist, dass unser Publikum diese Art von Performances liebt. Es ist an zeitgenössisches Theater gewöhnt.

 

Warum sind Ricci/Forte wichtig für die italienische Theaterszene?


R.M.: Ich glaube, dass es dafür mehrere Elemente gibt: Einerseits die emotionale Seite, d.h., der Betrachter fühlt sich vor allem durch die gefühlvolle Wirkung ihrer Vorstellungen betroffen. Und das noch, bevor er imstande ist, die Inszenierung durch seinen intellektuellen Filter zu bearbeiten. Das ist überhaupt ihr „kräftigstes Mittel“. Diese Komponente wird auf der einen Seite von den Themen, denen sie sich dezidiert gewidmet haben, begleitet. Was natürlich eine sehr genaue Auswirkung auf das Zielpublikum hat. Auf der anderen Seite spielt der Einsatz der Musik eine sehr wichtige Rolle. Die Auswahl der Lieder macht extrem süchtig. Viele sagen sogar, dass es sich um eine kluge Selektion handelt, in dem Sinne, dass Ricci/Forte wissen, die Musik auf eine positive Art und Weise einzusetzen, um Herz und Seele zu berühren. Diese musikalische Komponente verstärkt die emotionale Wirkung. Dazu kommt noch, dass es ihnen wie keinem anderen in Italien gelungen ist, ein sehr junges Publikum zu gewinnen.

 

Das bedeutet, dass sie einzigartig sind.

 

R.M.: Meiner Meinung nach, ja. Die junge Generation folgt ihnen überall hin. Deswegen sind Ricci/Forte einzigartig. Das ist ihr gewinnendes Merkmal, denn das Alter des Theaterpublikums ist in Italien sehr hoch. Sie hingegen konnten das Durchschnittsalter deutlich senken. Natürlich spielt auch die Gender-Problematik eine Rolle. Ricci/Forte haben in Rom oft Performances wie Still Lifegezeigt, in denen sich ein Teil der Zuschauer direkt angesprochen fühlt. Dadurch wendet sich das Duo direkt an das Zielpublikum, das sie sehr liebt. Dies sind meiner Meinung nach Aspekte, die mehr mit Marketing zu tun haben.

Dann gibt es die tiefgreifenden, poetischen Elemente. Diese sind klarerweise die Interessantesten. Ricci/Forte schaffen es, ein eigenes dramatisches Schreiben zu kreieren, das die Herzen der Menschen direkt anspricht. Und es ist, trotz seiner Einfachheit, sehr kultiviert. Nun, das ist eine sehr wichtige Sache: dieser Zusammenschluss einer verständlichen Sprache mit raffinierten Themen. Sie nehmen sogar Bezug auf das alltägliche Leben, verpacken es jedoch in einem sehr hohen kulturellen Kontext. Und das ist mit Sicherheit eine gewinnbringende Kombination.

Abgesehen von der besonderen Verwendung der Musik, die ich anfangs erwähnte, gehört noch ein Element zu ihrer Poetik: das Körpertheater. Eigentlich ist „Körper“ nicht das richtige Wort. Manche Kritiker sagen, dass es am Ende der Performances von Ricci/Forte immer Nackte auf der Bühne zu sehen gibt. Aber es sind niemals die nackten Körper. Es sind die bloßen Seelen. Es ist die Seele des Künstlers, die nackt ist. Dies ist die größte Stärke ihrer Shows. Nacktheit auf der Bühne haben wir schon in allen Varianten gesehen. Wen kümmert es? Ricci/Forte schaffen es, die Seele des Künstlers zu entblößen.

All diese Komponenten haben eine besondere Beziehung zwischen den Zuschauern und dem Künstler-Ensemble kreiert, eine spezielle Loyalität. In der Tat, das Publikum folgt der Gruppe überall hin.

 

Glauben Sie, dass die Zuschauer die Nacktheit der Seele wahrnehmen?


R.M.: Wer es schafft, diese Sache herauszufinden, der liebt Ricci/Forte sehr. Wer nur den nackten Körper sieht, ist nicht in der Lage darüber hinauszugehen.


Die Entdeckung trifft einen wie ein Schlag ins Gesicht.

 

R.M.: In der Tat, paradoxerweise „schlagen“ sie das Publikum. Viele Zuschauer akzeptieren dies nicht. Es ist nicht einfach. Es ist wirklich so, als ob man sich selbst im Spiegel anschauen würde. Und das schreckt viele ab.

 

Kommen wir nun zu den École des Maîtres.

 

R.M.: 2014 war Kroatien zum ersten Mal dabei. Somit haben Ricci/Forte mit fünf Ländern, und damit mit einer größeren Anzahl von Performern, gearbeitet. Anstatt sechzehn, waren diesmal weitere vier Performer, also insgesamt zwanzig junge Künstler, beteiligt.

 

Wird diese Show weiterhin präsentiert werden?

 

R.M.: Nein. Wir nennen es nicht einmal eine Show, sondern nur eine öffentliche Vorstellung, weil die École des Maîtres folgenderweise funktioniert. Es ist ein Projekt mit einem hohen Spezialisierungsgrad für unter 34 Jahre alte europäische Schauspieler. Zusammen mit unseren Partnern übernehmen wir die Spesen: die Tages- und Nachtsätze, die Reisekosten und die Gebühren des Workshops mit einem Meister der europäischen Theaterszene. Die Jugendlichen werden also nicht bezahlt. Die öffentliche Vorstellung dient einzig und allein dazu, um eine Beziehung zum Publikum zu erzeugen, um Türen zu öffnen. Aber wir bezahlen nicht die Eintrittskarten und nehmen die Show auch nicht wieder auf. Sonst wäre es den jungen Schauspielern gegenüber nicht gerecht, die die Arbeit nur als Bildungserfahrung machen. Das Projekt kann nicht benutzt werden, um damit auf Tournée zu gehen. Es endet in den teilnehmenden Ländern.

 

Und wie war Ricci/Fortes Workshop in Udine?

 

R.M.: Eigentlich ist Udine der jährliche Sitz der ersten fünfzehn Tage. Das ist die empfindsamste, aber auch fruchtbarste Zeitspanne. In diesen ein bisschen mehr als zwei Wochen gibt es ein gegenseitiges Kennenlernen, sowohl den anderen Jugendlichen als auch dem Meister gegenüber. Also eine besonders intensive Periode. Ricci/Forte haben keinem einen einzigen Tag Pause gegönnt. Es war unglaublich, wie viele Stunden am Tag sie zusammenarbeiteten: zwischen zehn und vierzehn Stunden! Es ist wirklich eine full immersion. Und es funktioniert in Udine, weil dies eine kleine Stadt ist. Sie bietet im August keine oder sehr wenig Ablenkungen. Die Stadt ist auch halb leer, weil viele ans Meer fahren. So können sich die Künstler nur auf die Arbeit konzentrieren. Die ersten zwei Wochen sind kritisch, weil dann das Verhältnis zwischen den jungen Schauspielern und dem Meister entsteht. 2014 war mit Sicherheit eines der intensivsten in den 24 Jahre der Geschichte der École des Maîtres. Die Einstellung von Ricci/Forte zur Arbeit, die Art ihres Schaffens, haben diese Intensität erzeugt.

Abgesehen davon war die Auseinandersetzung mit Genets Themen sehr persönlich. Auch in diesem Fall wurde die Seele entblößt. In der Tat sind ein paar Schauspieler weggegangen. Sie haben es nicht geschafft, die Art der Arbeit, die von ihnen verlangt wurde, zu akzeptieren. Nehmen wir die Szene des „Gebets“ als Beispiel. Das ist ein wunderschöner und starker Moment, ein deutlicher Beweis von Ricci/Fortes Arbeit. Alles ist eindeutig und wirkt so authentisch. Nichts ist nachgeahmt. Das ist etwas, was ich persönlich an Ricci/Forte besonders gern habe.

 

Diese Art von Darsteller findet man nicht überall. Wie sehen Sie die Zukunft der Gruppe?

 

R.M.: Für mich ist Anna (Gualdo) eine Heldin. Sie ist eine äußerst professionelle Schauspielerin von großem Können. Ich möchte nicht übertreiben, aber was Ricci/Forte verlangen, würden die wenigsten italienischen Schauspielerinnen, die Annas darstellerisches Niveau erreicht haben, akzeptieren. Sie ist außergewöhnlich großmütig, aber ihre Großzügigkeit wird von einer unglaublichen Professionalität begleitet. Eine solche Kombination ist sehr selten zu finden. Diese Energie und Freizügigkeit sind vielleicht bei den Anfängerinnen normal, jedoch mangelt es ihnen an Erfahrung. Anna dagegen besitzt beides.

 

Aber Sie sind ebenfalls Schauspielerin!

 

R.M.: Ja, aber ich hätte nie den Mut das zu tun, was Anna macht.

 

Warum?

 

R.M.: Ginge es nur um die physischen Bewegungen, hätte ich keine Bedenken. Es geht aber insgesamt um alles. Anna hat ihre Kunst und sich selbst Ricci/Forte gewidmet. Sie macht das mit riesigem Engagement und großer Triebkraft.
Ich möchte noch etwas hinzufügen. Nämlich den großen Schritt vorwärts, den Ricci/Forte mit
Darling, ihrer letzten Inszenierung, gemacht haben. Diese wurde von einigen stark kritisiert, weil sie die Produktion weniger gelungen fanden als andere ihrer Inszenierungen. Ich spreche von den Kritikern. Meiner Meinung nach haben Ricci/Forte mit Darlingviel Mut bewiesen. Sie waren noch radikaler als in ihren früheren Entscheidungen und haben es geschafft, die „Mechanismen“ aufzugeben, die bei ihrem Publikum gut ankommen. Und das ist sehr schwierig. Sie analysierten ihr eigenes Theater und brachten viele Neuigkeiten. Ihre Auswahl war verblüffend. Darlingist deshalb eine tiefgreifende und mutige Performance. Sie ist mit Sicherheit kräftiger und viel schwieriger als andere Shows.

 

Vielen Dank für das Interview!

 aus dem Italienischen von Irina Wolf

Udine, 31. Januar 2015



„Ein spezieller, angefochtener Getränkemix“

 

Roman Dolzhanskiy wurde 1966 geboren und studierte zunächst am Staatlichen Institut für Stahl und Legierungen in Moskau, bevor er sein Diplom in Theaterwissenschaft an der Russischen Akademie für Theaterkunst (GITIS) ablegte. Seit 1995 ist er Reporter für die Zeitung „Kommersant“, seit 1998 künstlerischer Leiter des Festivals „New European Theatre“ (NET) in Moskau. Roman Dolzhanskiy war Jurymitglied für die Vergabe des „Golden Mask Award“. 2003 wurde er mit dem Chaika-Preis ausgezeichnet. 2004 erhielt er den Alexander-Kugel-Preis. Roman Dolzhanskiy ist Mitbegründer des „Territoria“-Festivals, zusammen mit Evgeny Mironov, Kirill Serebrennikov und Andrey Urayev. Diese internationalen, multikulturellen Schul-Festspiele wurden 2006 mit Unterstützung des Kulturministeriums und der Moskauer Stadtregierung ins Leben gerufen. Das Programm besteht aus einzigartigen, modernen und experimentellen, aus angrenzenden Genres stammenden Performances.

 

 Was hat Sie am meisten beeindruckt, als Sie Ricci/Fortes Theater zum ersten Mal begegnet sind?

 

Roman Dolzhanskiy: Ich bin immer auf der Suche nach Shows für NET, welches ich zusammen mit Marina Davidova seit 16 Jahren organisiere, sowie für das „Territoria“-Festival, für dessen Programmierung ich zuständig bin. Letzteres beschäftigt sich mit mehreren Genres: Musik, Tanz und Theater. Bei „Territoria“ untersuchen wir unterschiedliche Möglichkeiten, anstatt einer strengen Teilung nachzugehen. Daher reise ich sehr viel und schaue mir zahlreiche Inszenierungen an, um sie nach Moskau zu bringen. „Territoria“ bietet aber auch eine Menge Workshops für Studierende. Eigentlich haben wir es hier nicht mit einem Festival, sondern mit Schul-Festspielen zu tun. Wir bringen junge Schauspieler aus ganz Russland zusammen, die zehn Tage lang intensiv arbeiten. Die Schauspielstudenten kommen aus großen Städten wie Nowosibirsk, Ekaterinburg, Wladiwostok, wo sie keinen Zugang zum Welttheater haben. Sie werden im Stanislawski-System, das manchmal sehr konservativ ist, unterrichtet. Das „Territoria“-Festival bietet eine kulturelle Öffnung. Es wurde für die Studenten erfunden, um ihnen zu zeigen, dass es nicht nur russisches Theater gibt - das manchmal großartig, aber mitunter schrecklich sein kann -, dass dies nicht die einzige Theaterform ist. Genauer gesagt, dass es verschiedene Arten gibt, Theater zu machen, vor allem jetzt, da es so beliebt ist, Genres zu mischen: Tanz und Sprechtheater, Tanz und Puppentheater, Kino und andere.

So bin ich immer auf der Suche nach etwas, das interessant sein könnte, um nicht nur Produktionen zu zeigen, sondern auch neue Methoden, die für die Studenten - als Lehrmittel - anregend sein könnten. Und ich hatte von Ricci/Forte von meinen Kollegen gehört. Einer von ihnen lebt in Italien und sah eine ihrer Shows. Ricci/Forte waren in Russland völlig unbekannt. Denn das Theater in Italien funktioniert nach einem anderen System. Wenn Sie zum Beispiel nach Wien auf ein Festival kommen, gehen Sie als Erstes ins Burgtheater. Natürlich spielen sich die interessanten Dinge nicht nur im Burgtheater ab, aber Sie beginnen mit den Institutionen. Das bedeutet nicht, dass Sie nicht die spannendsten Vorstellungen woanders finden werden. Aber die Logik sagt Ihnen, dass man mit den Institutionen beginnt.

Aber in Italien ist dies nutzlos, weil Sie nie in das Teatro Stabile einer Stadt gehen werden. Sie müssen also einen eigenen Weg finden. Und die bemerkenswertesten Dinge in der italienischen Theaterszene, wenn wir über die Einrichtungen sprechen, sind grenzwertig (sogar Romeo Castellucci, Pippo Delbono, Emma Dante und so weiter). Alle interessanten Namen sind einfach irgendwo, nur nicht „auf dem Hauptplatz“. Also müssen Sie immer Menschen fragen. Viele erzählten mir von Ricci/Forte. Und ich sah ihre Bilder, die mir recht attraktiv erschienen. Es war - ich weiß nicht - Intuition, Bilder, vielleicht einige Texte, die ich gelesen hatte. Als ich mir in Rom ihre Werke Grimmless und Macadamia Nut Brittle anschaute, verstand ich, dass Ricci/Forte im Rahmen des „Territoria“-Festivals gezeigt werden sollten, weil ihr Workshop nutzbringend sein könnte.

Manchmal denke ich, dass es im zeitgenössischen Theater ausnahmslos um Kommunikation geht. Denn dies ist fast die einzige Möglichkeit über das Leben und unsere Welt, in der wir heutzutage nun mehr Gadgets sind, zu sprechen. Und alles ist verdorben. Es ist die einzige Gelegenheit, um mit anderen Menschen zusammenzukommen. Denn - wie Ihnen bekannt ist - sitzen wir manchmal am selben Tisch und reden miteinander, spielen aber zur gleichen Zeit mit unserem Mobiltelefon. Es ist verrückt, aber das ist die Welt. Ich glaube also, dass es darum geht, wie man mit dem Publikum kommuniziert.

Und ich habe festgestellt, dass Ricci/Forte eine ganz besondere Art der Kommunikation aufweisen. Abgesehen von der Tatsache, dass sie eine ganz spezielle Methode des Umgangs mit klassischer Kultur beherrschen, die von einer seltenen Wiederentdeckung des klassischen Handlungsverlaufs zeugt. Ihre Arbeit enthält auch eine Menge Folkloreelemente. Denn alles was sie getan haben, gleicht einem Märchen - einem modernen Märchen, gespielt von Erwachsenen, die sich aber noch immer kindisch aufführen. Und Ricci/Forte betrachten das Publikum auch als erwachsene Kinder.

 

Eigentlich glaube ich, dass eine ihrer Ideen darin besteht, sich zurück in die Kindheit zu versetzen.

 

R.D.: Ja, sie versuchen es. Ich empfand die Schauspieler als gestresst. Sie sind erwachsen geworden, aber noch nicht bereit, sich wie Erwachsene zu verhalten.

 

Welche Performance haben Sie nach Russland eingeladen?

 

R.D.: Ich habe Grimmless für „Territoria“ gewählt, weil es „weicher“ ist. Es war mir wichtig, die Studenten nicht beim ersten Mal mit Vorstellungen, die zu radikal, zu fremd sein könnten, zu verderben.

 

Aber Ricci/Forte sind sehr radikal. Wie war die Wahrnehmung in Russland?

 

R.D.: Sie wurden sehr gut wahrgenommen. So gut, dass wir sie auch eingeladen haben, den Workshop für „Territoria“ zu halten. Anschließend wurden Ricci/Forte gebeten, eine Show für das Gogol Centre zu machen. Viele junge Schauspieler bilden das Ensemble des Gogol Centres, sodass sie daran interessiert sind, Menschen, die andere Arten der Performance zeigen können, einzuladen. Und es war schon erstaunlich, was Ricci/Forte in so kurzer Zeit geschafft haben, auf die Beine zu stellen. Meiner Meinung nach war es keine komplette Performance, nur work-in-progress. Aber als ich mir die Show mit den russischen Schauspielern angeschaut habe, fehlten mir die italienischen Performer.

 

Warum?

 

R.D.: Mir fehlten die nationalen Elemente wie Offenheit und Temperament. Ricci/Forte sind sehr anspruchsvoll, sie verlangen sehr viel und sie brauchen einen Offenheitsgrad, eine „Irritation der Gefühle". Und russische Schauspieler arbeiten ganz anders. Ricci/Forte waren viel strenger mit ihnen. Mir hat die Energie ihrer Herausforderung gefehlt.

 

Aber standen die Studenten den Übungen des Workshops offen gegenüber?

 

R.D.: Ja, ich glaube schon. Sie haben sich der von Ricci/Forte vorgeschlagenen Arbeit gegenüber offen verhalten. Wahrscheinlich waren sie nach der ersten Begegnung ein bisschen ängstlich. Man konnte es auch in der Show spüren. Aber sie haben sich dem Prozess wirklich gewidmet. Jedoch hat das „System“, das Stefano Ricci und Gianni Forte erfunden haben, die italienische Kultur als Grundlage. Natürlich sind Ricci/Forte sehr international, zugleich aber sehr national. Und als ich sie mit Russen arbeiten sah, habe ich verstanden, dass sie nicht so universell sind, dass sie von dieser italienischen Schauspielkunst stark beeinflusst sind.

 

Das ist interessant, weil Gianni heute in Paris lebt.

 

R.D.: Ja, ich weiß. Aber für mich sind sie ein wichtiger Teil von Italien: die Art und Weise der Verschmelzung von Offenheit, Unterbewusstsein, Emotionen und spontanen Reaktionen. Vielleicht liege ich falsch. Ich habe die Ergebnisse ihrer Erfahrung mit anderen Schauspielern aus verschiedenen Ländern nicht gesehen. Als sie aber mit den Studenten des „Territoria“-Festivals arbeiteten, war es erstaunlich, wie offen sich die Schauspieler verhielten. Sie sagten und machten so unerwartete Dinge. Eine der Übungen war, zum Beispiel, einander zu umarmen und der Atmung des Partners zuzuhören. Ricci/Forte arbeiten mit sehr intimen Elementen und manchmal brechen diese die Privatsphäre des anderen. Und darum geht es ja im Theater. Schauspieler müssen bereit sein, sich nackt auf der Bühne zu zeigen. Damit meine ich, seelisch nackt (und physisch auch). Ricci/Forte arbeiten sehr viel mit Nacktheit. Aber die physische Blöße in ihren Shows ist eine weitere Möglichkeit, die emotionelle Nacktheit auf die Bühne zu bringen.

Es gibt eine Menge sozialkritische Künstler in Europa, was das Unterbewusstsein und die Freudschen Ansätze betrifft. Andere, wie Castellucci, sprechen über die ewigen Kulturprobleme. Aber ich mag Ricci/Fortes Mischung. Sie sind sozialkritisch, jedoch wirkt ihre Art Theater zu machen nicht langweilig. Was Künstler zu sagen haben, ist wichtig und sollte berühren. Und das merkt man. Ab und zu unterziehen sie das Publikum einer erbarmungslosen Behandlung, wenn sie versuchen, die Zuschauer „aufzurütteln“. Diese Theaterform ist uns allen bekannt. Aber manchmal habe ich den Eindruck, dass etwas fehlt. Ich vermisse die menschliche Dimension.

 

Und bei Ricci/Forte finden Sie diese.

 

R.D.: Ja. Es ist eine Art angewandter Kunst. Sie haben ein soziales Ziel, sowohl soziale als auch künstlerische Anliegen. Und wie schaffen sie es, sozialkritisch zu sein? Ihr Theater ist eine leichte Kost. Ihre Shows wirken nicht depressiv, obwohl sie existenzielle Themen aufgreifen: Tod, in-der-Zeit-sein. Ihr Fokus liegt darauf, dass die Menschen nicht mehr fähig sind zusammenzukommen, dass das Leben stirbt und der Körper eingeht, dass wir unsere Zeit verschwenden und dass die Zeit unser „Hauptfeind“ ist, wie Stefano Ricci sagt. Aber die Art, wie diese Themen dargestellt werden, ist sehr berührend. Sie dringt in die Herzen der Zuschauer, jedoch verlässt das Publikum nach dem Ende einer Aufführung nicht bedrückt den Saal. Castellucci zum Beispiel ist sehr spektakulär, künstlerisch fantastisch. Seine Inszenierungen sind Stücke zeitgenössischer Kunst, die aber sehr deprimierend wirken. Manchmal muss Kunst zerstörerisch sein, um eine Erneuerung hervorzurufen. Aber Ricci/Forte zerstören nicht. Und das schätze ich sehr. Für mich ist es sehr wichtig, nicht „getötet“ zu werden, nicht vom Theater „erschreckt“ zu sein. Und dem Publikum geht es genau so.

 

Russland ist sehr kritisch was Stil und Nacktheit anbelangt. Wir haben schon vor dem Interview über Politik gesprochen. Wie haben sich Ricci/Forte integriert?

 

R.D.: Wir müssen in Erwägung ziehen, dass Ricci/Forte zum Festival eingeladen wurden, dessen Publikum speziell ist. Hätte man sie in eine kleine Stadt, in einem kleinen Theater weit weg von Moskau entfernt, präsentiert, wären die Zuschauer wahrscheinlich schockiert gewesen. Bei diesem Moskauer Festival besteht das Publikum aus jungen Leuten, die mehr oder weniger daran gewöhnt sind, solche Performances zu sehen, denn wir haben schon eine ganze Reihe berühmter und radikaler Künstler wie Castellucci, Alain Platel, Arpad Schilling, Rodrigo Garcia gezeigt. So hatte ich keine Bedenken Ricci/Forte im Festivalkontext einzuladen. Und das Gogol Centre ist auch ein Theater, das sich junger Zuschauer erfreut. Ricci/Forte waren nicht wirklich mit Russlands konservativem Publikum konfrontiert. Es war eine Art künstliche Arbeit. Es war sicher.

 

Wir haben vorher auch über Zensur gesprochen.

 

R.D.: Nun, ja. Das war vor zweieinhalb Jahren. Damals war es nicht so furchterregend. Dieser negative Prozess hat sich innerhalb des letzten Jahres sehr schnell entwickelt. Das Gefährlichste daran ist, dass die Menschen dadurch zur Selbstzensur neigen. Es ist nicht nur die offizielle Zensur. Das Volk selbst fängt an, in diese Richtung zu denken. Ich selbst fühle mich nicht mehr sicher, denn das Festival ist staatlich subventioniert.

Um die Wahrheit zu sagen, wenn ich Ricci/Forte jetzt treffen würde, wäre ich viel vorsichtiger bei der Auswahl ihrer Show. Wir haben an Imitationofdeath gedacht. Aber derzeit kommt das leider nicht infrage. Ich würde sie liebend gern einladen, denn sie sind fantastisch. Beide so unterschiedliche Persönlichkeiten. Und all ihre hervorragenden Performer. Wie gesagt, ihre ist eine ganz besondere Art zeitgenössisches Theater zu machen. Diese Mischung von Bewegung und Musik, kurze, konzentrierte, spektakuläre und soziale Performances zu kreieren. All das beschäftigt den Zuschauer lange nach Ende der Aufführung, es „blüht in ihm auf“.

Ich habe sehr gute und warme Erinnerungen an unsere Zusammenarbeit, an Ricci/Fortes Show und Workshop sowie an deren Akzeptanz. Sie sind offen, sprechen nicht über hohe Kunst, sondern widmen sich dem Alltäglichen. Ihr Theater ist auf der einen Seite künstlich, das heißt, es gibt vor, nicht das echte Leben zu sein. Es ist einer Verlockung ähnlich, manchmal ist es wie Kabarett, aber zur gleichen Zeit hat es mit dem echten Leben zu tun. Ricci/Forte verwenden eine einfache Sprache, die aus demselben „Material“ gemacht ist wie das Leben. Was für ein interessanter Betrachtungswinkel und was für ein spezieller, angefochtener „Getränkemix“, der sich mit traurigen und beängstigenden Themen beschäftigt, aber auf so eine Art und Weise gemischt ist, dass man „beim Trinken“ den Eindruck gewinnt, er sei nicht von hier. Jedoch wurde er hier gefertigt. Ein ganz besonderes „Doppelgefühl“.

 

Dies ist ein wunderbarer Abschluss. Vielen Dank für das Interview!

 

 

aus dem Englischen von Irina Wolf

 Wien, am 30. Mai 2015



„Man kann nicht immer die gleichen Formeln wiederholen“

 

Sergio Ariotti ist Gründer des Festivals delle Colline Torinesi, das er seit 1996 zusammen mit Isabella Lagatolla leitet, er als künstlerischer Direktor, sie als Verantwortliche der Organisation und Kommunikation. Sergio Ariotti belegte das Studium der Theatergeschichte an der Turiner Universität bei Gian Renzo Morteo, das er mit einer Diplomarbeit über das jakobinische Theater in Italien abschließt. Nach einer Lehrtätigkeit an derselben Universität hat Sergio Ariotti als Schauspieler, Regieassistentin und Regisseur sowohl in öffentlichen als auch in privaten Theaterhäusern gearbeitet. Von 1979 bis 1990 war er Regisseur bei der RAI. Nach 1990 arbeitet er als Journalist (Spezialisierung Theaterkritik) für die Kulturredaktion der TV-Nachrichten des Piemonts. Er ist Autor, Regisseur und Leiter von Hunderten von Radio- und Fernsehprogrammen sowie von journalistischen Berichten. Er hat zahlreiche Theaterstücke in Szene gesetzt und ist Autor mehrerer Publikationen über Theater, Kino und zeitgenössische Kunst. Seit 2000 hält er einen Kurs über Kinogeschichte und -kritik an der Universität Ostpiemont in Vercelli.

Nach ihrem Studium der modernen Literaturwissenschaften an der Turiner Universität und ein paar Jahren der Literaturlehre an Mittel- und Hochschulen in Turin und der Provinz hat sich Isabella Lagattolla als Theaterorganisatorin und -administratorin am italienischen Theaterinstitut in Rom, an den von Fulvio Fo geleiteten Kurs, weitergebildet. Sie hat Erfahrungen in den Bereichen Theater-Organisation und -Kommunikation. Von 1987 bis 1991 war Isabella Lagattolla für Sonderinitiativen in der Kommunikations- und Bild-Branche der GFT-Gruppe verantwortlich. Sie hat mit der Stiftung des Teatro Stabile di Torino in den Produktions- und Pressebereichen von 1998 bis 2003 zusammengearbeitet. 2008 und 2010 war sie Mitglied der „Rigenerazione“-Jury, ein für junge Theatergruppen der Region bestimmtes Projekt des Turinischen Theatersystems. 2012 hat sie die Theaterprojekte für die Ausschreibung Movin'up del Gai, ein Parcours junger italienischer Künstler, ausgewählt. 2013 war sie Jury-Mitglied der Endrunde des „Scenario“-Preises in Santarcangelo di Romagna.

 

Beginnen wir von Anfang an. Wann fand ihr erstes Treffen mit Ricci/Forte statt?

 

Isabella Lagattolla: Beide waren noch sehr jung, als sie den Oddone-Cappellino-Preis für Dramatik des Festivals delle Colline Torinesi gewannen. Cappellino war ein begabter Turiner Autor, der plötzlich im Alter von 36 Jahren an einem Herzinfarkt starb. Stefano Ricci und Gianni Forte gewannen den Preis mit L’acchiappatopi (Der Rattenfänger).

 

Das war in ...?

 

I.L.: In 1998. Ein Jahr zuvor hatte das Künstler-Duo einen anderen Text, Aspettando Marcelo (Wartend auf Marcello), präsentiert. Damals war ich die Sekretärin der Jury, sodass ich mich gut daran erinnere, dass dieser Text einen großen Anklang gefunden hat. Ricci/Forte wurden unter die Finalisten gereiht, belegten aber nur den zweiten Platz. 1998 gewannen sie den Preis mit Der Rattenfänger. 1999 wurde Wartend auf Marcello mit Turiner Schauspielern inszeniert. Es war eine fiktive Geschichte über zwei Menschen, die auf einer Bank sitzen. Man verstand nicht, ob sie lebendig oder tot, Freunde oder Fremde, sind, ob sie aus dem wirklichen Leben oder dem Fantasiebereich stammen, denn sie redeten miteinander oder eben nicht. Wir haben das Stück auf den Hügeln in der Umgebung von Turin, auf einer echten Bank eines Dorfplatzes, unter einem Schloss, inszeniert. Und die Zuschauer saßen rundherum. Wartend auf Marcello war ein sehr schöner, surrealer, abstrakter Text. Es war wirklich nicht möglich zu verstehen, wer die Figuren waren. Und Ricci/Forte waren sehr jung. Damals hatten sie noch keine Glatze. Beide waren fast nicht wiederzuerkennen.

In den darauffolgenden Jahren begleiteten wir sie pausenlos, aber sie nahmen - aus verschiedenen Gründen, zum Beispiel weil sie anderswo arbeiteten - nicht mehr an den Festspielen teil. Nach langer Zeit kamen sie zum Perspektive-Festival des Teatro Stabile aus Turin. Mit Macadamia. Dort haben wir uns wiedergefunden, und sie sagten: „Ihr wart diejenigen, die uns in irgendeiner Weise bekannt gemacht haben und zu Eurem Festival kommen wir nicht?“ Anschließend kamen sie mit Pinter's Anatomy.

 

Was hat Sie bei Ricci/Forte von Anfang an beeindruckt?

 

I.L.: Mit Sicherheit ihre Art zu schreiben, weil wir als Allererstes ihre Texte lasen. Diese unterschieden sich von den heutigen sehr stark, sie waren surrealer, abstruser. Erst als wir Macadamia sahen, entdeckten wir auch die Inszenierung, die eine wichtige Rolle spielt. So schlugen wir ihnen vor, Pinter’s Anatomy im Foyer des kleinen Saals der Cavallerizza zu zeigen. Aber Ricci/Forte fragten uns: „Warum werdet Ihr nicht unsere Koproduzenten?“ Also begannen wir ihre Performances zu koproduzieren und waren auch Gastgeber von Still Life, eine Show, die nicht zu unseren Koproduktionen zählt. Seit vier Jahren kommen nun Ricci/Forte zum Festival delle Colline Torinesi. Pinter, Imitationofdeath, Still Life, Darling - sind die bisher gezeigten Performances. Ich würde Wunderkammer liebend gern auf den Spielplan nehmen, aber sie spielt an sieben verschiedenen Orten.

 

Und ihre letzte Produktion, Darling, ist etwas Besonderes, ist anders?

 

Sergio Ariotti: Wir haben die Premiere in Rom gesehen und waren sehr überrascht, denn sie schien nur eine sanfte Version ihrer traditionellen Art Theater zu machen zu sein. Die Show war viel weniger aggressiv, wies nur vereinzelt Energie auf. Es fehlten auch ihre sehr spezifischen Themen...

 

I.L.: Kräftige Themen.

 

S.A.: ...wie Tod, Homosexualität. Hingegen scheint Darling eher mit einer anderen Art von Dramatik korreliert zu sein, in diesem Fall mit der Geschichte von Klytämnestra, Agamemnon, mit dem klassischen Stoff. Uns schien es eine interessante Wahl zu sein. Ich bin aber weiterhin zwischen dem Theaterstil ihrer vorherigen Shows und diesem neuen hin und hergerissen, weil er, meiner Meinung nach, nur der Anfang einer Reise ist. Diese Positionierung zu einer anderen Dramatik, eine, die nicht ihrer Feder entspringt, ist noch nicht ganz gelöst. Aber es ist ein gutes Zeichen, ein Anfang. Und dann gibt es auch ein neues, wichtiges Element: das Bühnenbild. Dieser grüne Behälter, der in Stücke zerlegt wird, der einem zerrissenen Gewissen ähnelt.

 

Ist es das erste Mal, dass Ricci/Forte ein Bühnenbild verwenden?

 

I.L.: Wahrscheinlich. Mir würde es gefallen, wenn sie immer ein Bühnenbild hätten. Daher hätte ich ein Treffen mit Spezialisten, insbesondere mit einem bestimmten Turiner Bühnenbildner bevorzugt, aber auch mit einer Person, die sich mit Sound-Systemen beschäftigt. Meiner Meinung nach sollten sich Ricci/Forte mit Mitarbeitern umgeben, um ein gemeinsames Projekt auf die Beine zu stellen. Sie sind sehr tüchtig, aber die Beiden sollten nicht immer alles selber machen.

 

S.A.: Sie haben, unter anderem, eine große Fähigkeit ihre Ideen zu kommunizieren und andere zur Arbeit zu motivieren. Es wäre also nicht schlecht, wenn sie sich mit wichtigen Mitarbeitern zusammentun würden. Jetzt ist die Zeit dafür gekommen. Sie sind keine Kinder mehr. Es ist die Zeit gekommen, um...

 

I.L.: ...einen qualitativen Sprung zu machen. Jetzt wollen sie mit anderen Texte arbeiten. Sie haben zwei zukünftige Projekte mit Texten, die nicht die ihren sind.

 

Und ihre Schauspieler? Giuseppe Sartori und Anna Gualdo waren von Anfang an dabei...

 

I.L.: ...und manchmal Liliana Laera.

 

S.A.: Andere sind dazugekommen, einige auch gegangen.

 

Ja, das stimmt. Aber es sind immer junge Performer, die auch die notwendige Vitalität für Ricci/Fortes Shows haben. Diese Art von Schauspieler ist etwas ganz Besonderes. Wie sehen Sie die Zukunft des Ricci/Forte performing arts ensembles?

 

S.A.: Anna hat mit Ronconi gearbeitet, bringt daher eine Erfahrung aus dem traditionellen Theater mit.

 

I.L.: Anna ist ihre weibliche Referenzfigur. Es ist nicht einfach, Schauspielerinnen zu finden, die in der Lage sind, Ricci/Fortes physisch äußerst anspruchsvolles Theater zu machen. Es ist schwer, italienische Künstlerinnen zu finden, die dazu bereit sind. Ich denke, zum Bespiel an Silvia Calderoni, die Schauspielerin der Gruppe Motus. Anna ist wirklich eine Ausnahme, weil die Schauspielerinnen entweder rezitieren und singen, oder sie rezitieren, singen und tanzen ein wenig. Aber ihren Körper so einzusetzen, mit der von Ricci/Forte verlangten physischen Kraft, ist nicht einfach.

 

S.A.: Ricci/Fortes Theater ist auch eine männlich-betonte Kunst.

 

I.L.: Ja, es ist aber auch ein Problem der Bildung. Unsere Schulen bereiten die Schauspieler nicht auf diese Körperarbeit vor.

 

S.A.: Indessen haben Ricci/Forte eine tolle Erfahrung in Russland gemacht, weil die russischen Schauspieler bereit waren, diese Körperarbeit zu machen, zugleich aber eine sehr gute Aussprache hatten.

 

I.L.: Ja, die russischen Schauspieler sind außerordentlich gut.

 

S.A.: Schließlich gibt es in Italien eine Grenze zwischen einem traditionellen Theater - dazu gehören Schauspieler mit einer guten Diktion - und einem experimentellen Theater, zu dem Schauspieler gehören, die sich gut bewegen. Es ist eher unwahrscheinlich, eine Mischung beider Theaterarten zu finden. Alle waren überrascht, als Umberto Orsini mit Pippo Delbono gearbeitet hat, denn Orsini hat die Grenze überschritten. Seine ist eine der angesehensten Stimmen des klassischen italienischen Theaters. Orsini ist ein „feiner Sprecher“ - wie wir in Italien sagen zu pflegen. Ich glaube, dass Ricci/Forte in der Lage sind, diese Grenzüberschreitung mehreren Schauspielern und auch Schauspielerinnen beibringen zu können.

 

I.L.: Du hast einen aussagekräftigen Namen erwähnt.

 

S.A.: Ja, Umberto Orsini ist wie ein Schauspieler des Wiener Burgtheaters.

 

I.L.: Ein schöner Mann, der eine wundervolle tiefe Stimme hat und, auch mit seinen 80 Jahren, eine Faszination ausstrahlt. Er war mit einer der Kessler-Zwillinge befreundet. Umberto ist ein Schauspieler, der Herausforderungen liebt.

 

I.L.: Ricci/Fortes Performer kommen meistens nicht aus Schauspielschulen. Sie werden aus den von ihnen gehaltenen Workshops ausgewählt, wie Silvia von Motus.

 

S.A.: Oder Licia Lanera, die Schauspielerin der Gruppe Fibre Parallele. Auch sie kommt aus der Praxis, nicht von der Theaterschule. Ich glaube, dass diese zwei Schauspielerinnen zu den wenigen italienischen Künstlerinnen gehören, die diese beiden Möglichkeiten in Einklang bringen könnten.

 

I.L.: Es wäre schön, wenn das Duo beginnen würde mit anderen Schauspielern zu arbeiten, um die Attraktivität zu erhöhen.

 

S.A.: Sie schreiben auch sehr gut und sind imstande, den Schauspielern gute Anweisungen zu geben.

 

I.L.: Ricci/Forte haben einen guten Überblick. Es wäre schön, wenn sie versuchen würden, die Herausforderung der Arbeit mit jungen italienischen Schauspielern anzunehmen, denn Sie haben recht, dass Ricci/Forte insgesamt internationale Schauspieler bevorzugen. Sie leiteten die École des Maîtres und wählten weitere Performer von den Teilnehmern aus.

 

S.A.: Und Darling könnte das Zeichen einer neuen Richtung sein. Auch ein gefährliches, denn es gab einige, die diese Entscheidung kritisierten, sich von einer die Körperlichkeit betonenden Theaterform zu entfernen, um andere Texte in Angriff zu nehmen. Aber es ist eine schöne Herausforderung.

 

I.L.: Es gibt auch diejenigen, die die Produktion sehr gemocht haben, weil sie ein Versuch, eine kräftigere „Démarche“, darstellt, einen klassischen Text wieder aufzugreifen, statt eigene Texte zu entwerfen.

 

Die Meinung der Kritiker ist geteilt. Und wie schaut es mit dem Publikum aus, zum Beispiel mit dem Turiner Publikum?


S.A. und I.L.: Auch das Publikum ist geteilt.

 

Und wie hat sich Ricci/Fortes Verhältnis zum Publikum seit 1999 entwickelt?


I.L.: In Italien haben sie seit jeher Fans, die ihnen überall hinfolgen. Und dann hängt es von den Themen ab. Still Life, zum Beispiel, hat ein wichtiges und aktuelles soziales Thema berührt und eine unglaubliche Einigkeit unter den Zuschauern kreiert. Was Darling betrifft, ist aber das Publikum geteilt, weil es ein weiteres Still Life, eine andere Imitationofdeath, erwartet hatte. Und es bekam etwas anderes zu sehen, eine Performance, die sich auch in einem langsameren Tempo als die Geschwindigkeit der anderen Ricci/Forte Shows, abspielte.

 

S.A.: Ruhiger sozusagen, denn sie machen noch immer einen höllischen Lärm.

 

I.L.: Ruhig auf Ricci/Forte-Art. Und deshalb war das Publikum sogar ein wenig in Verlegenheit geraten. Es sagte: „Na ja, nicht schlecht.“ Aber es schien, als ob etwas fehlte. Mir hat es gefallen, dass Ricci/Forte viel riskiert haben und viele Änderungen brachten. Diese Merkmale sind für einen Künstler sehr wichtig. Er kann nicht immer seinen Klischees treu bleiben und ständig die gleiche Show wiederholen.

 

Dem Publikum das zeigen, was es sehen will.

 

I.L.: Ganz genau.

 

S.A.: So ist es, und vor allem glaube ich - und Ricci/Forte haben es auch gesagt -, dass man nicht immer die gleichen Formeln wiederholen kann. Ich erinnere mich an etwas, was ich seit Kurzem gelesen habe: „Ah, die Künstler haben es leicht. Sie finden eine Formel und wiederholen diese unendlich, weil die Kritiker und das Publikum danach verlangen. Nein. Vielmehr müssen die Künstler damit aufhören, so wie ich es tat, und wieder von vorne anfangen“, sagte Duchamp.


So wie Ricci/Forte das mit Darling gemacht haben.


I.L.: Genau. Meiner Meinung nach ist Darling deshalb wichtig, weil es eine Wiedergeburt darstellt.

 

aus dem Italienischen von Irina Wolf

 Turin, 10. Juni 2015



Ricci/Forte reformieren die Geschichte der Performance

 

Wie haben Sie Ricci/Forte kennengelernt?

 

Patrick Sommier: 2012 habe ich Imitationofdeath beim Festival „Romaeuropa“ gesehen. Daraufhin habe ich sie zum Festival „Le Standard Idéal“ eingeladen. Sie waren schon vorher in Paris für zwei Wochen, aber nicht bei einem Festival. Das Publikum zeigte sich sehr interessiert. Anschließend haben Ricci/Forte, zusammen mit vier weiteren Regisseuren, an einem Workshop mitgewirkt. Jeder hatte zwei Stunden zur Verfügung, um mit allen 200 Teilnehmern zu arbeiten. Ricci/Forte haben die Themen „Verführung und Liebeserklärung“ ausgewählt. Eine lustige Idee.

 

Wie hat das Publikum auf Ricci/Fortes Arbeit reagiert?

 

P.S.: Es ist noch zu früh um festzustellen, ob sie einen Einfluss in Frankreich nehmen können, obwohl sie öfters bei uns gespielt haben. Vor dem Festival „Le Standard Idéal“ waren sie 2010 in Paris bei der „Mènajerie de Verre“ mit Wunderkammer, eine Produktion in Kleinformat. Im Gegensatz dazu ist Imitationofdeath eine Performance in Großformat. Es entsteht also langsam ein Publikum, das an Ricci/Forte interessiert ist. Es bildet sich ein Fanklub in Paris.

 

Was beeindruckt Sie persönlich bei Ricci/Forte?

 

P.S.: Meiner Meinung reformieren sie die Geschichte der Performance. Ihre Art Theater zu machen habe ich bisher noch nie gesehen, diese Bildforschung und Betrachtung der Gesellschaft. Letztere ist sehr heftig, sehr scharf. Ich möchte sie nicht politisch nennen, da dies ein schwacher Ausdruck ist. Es ist weit mehr als das. Es ist eine Art, sich zugleich poetisch und politisch an die Gesellschaft zu richten. Aber Ricci/Forte gehören noch nicht zum Mainstream, wie Angélica Lidell. Dazu kommt ihre schöne Art zu schreiben. Ihre Texte sind sehr schön. Sie haben eine sehr originelle Stimme, die keiner anderen uns bekannten zeitgenössischen Stimme ähnlich ist. Der Text von Darling, ihrer letzten Produktion, ist sehr gut.

Sprache ist auch ein Teil des Performance-Theaters. Während der Aufführung heute Abend nehmen wir zum Beispiel an einem „Rätsel“ teil. Im Theater gibt es eine Schattenseite, eine Interpretation, die wir selber machen. Spannend ist das, was ungesagt bleibt.

Dennoch ist Ricci/Fortes Theater vor allem visuell. Es ist ein Körpertheater. Das lernt man insbesondere in den Theaterschulen in Russland: zuerst der Körper, dann die Sprache. Das Hauptmerkmal, die Stärke von Ricci/Forte ist der Körper, das Visuelle. Gehemmte Körper, gefesselte Körper - alle versuchen, sich zu befreien.

 

aus dem Französischen von Irina Wolf

Paris, 23. März 2015