Matei Visniec und die Freiwilligen (c) Amedeia Vitega
Matei Visniec und die Freiwilligen (c) Amedeia Vitega

Anregende Kuchenstücke für Kulturdiplomatie

(20. Mai 2024)

 

Der Empfang ist unglaublich: Mit schwarzem T-Shirt und rosa Sackerl sind Jugendliche auf zwei Reihen im Theaterfoyer verteilt, die sich gegenüberstehen. Ich schaffe es nicht lange, mich an den lächelnden Gesichtern der jungen Freiwilligen zu erfreuen. Dass auf dem Boden zahlreiche Fotos verstreut liegen, bemerke ich erst, als ich fast ausgerutscht wäre. Mihai Nistor hat die Bilder letztes Jahr während des weltweit renommiertesten Festivals d'Avignon aufgenommen, an dem das Matei-Vișniec-Stadttheater mit zwei Produktionen mitwirkte. Eine ausgefallene Art, eine Fotoausstellung zu organisieren. Auf diese abenteuerliche Weise startete mein kurzer Aufenthalt beim Festival „Die internationalen Tage des Matei-Vișniec-Stadttheaters“, das in diesem Jahr vom 11. bis 19. Mai stattfand. Nicht nur die Freiwilligen gelten als Beweis der jugendlichen Seele des in Suczawa in der historischen Landschaft Bukowina im Nordosten Rumäniens 2016 gegründeten Theaters. Die Institution ist noch „minderjährig“, entwickelte sich dessen ungeachtet prächtig unter dem Management von Angela Zarojanu und der Beratung des Dramatikers Matei Vișniec. 

Wie wir Josef Stalin beerdigten (c) Amedeia Vitega
Wie wir Josef Stalin beerdigten (c) Amedeia Vitega

Pfeifen und Vogelscheuchen können vom Krieg nicht zerstört werden

 

Unter dem Motto „Theater, Kulturdiplomatie“ wurde die achte Festival-Ausgabe mit der Premiere des Gastgebertheaters Wie wir Josef Stalin beerdigten eröffnet. Artur Solomonov verfasste den Text mit dem Untertitel „ein Stück über Flexibilität und Unsterblichkeit“ im Jahr 2018, bevor er Russland in Richtung Israel verließ. Nur zwei russische Theater wagten es, das Stück auf die Bühne zu bringen, denn Solomonovs Text zeigt, wie leicht sich ein Mensch in einen Tyrannen verwandeln kann. Der Handlung zufolge beginnt ein Theater fieberhaft damit, eine Inszenierung zu ändern, die Stalin lächerlich macht, nachdem sich der russische Präsident von dem, was er auf der Bühne sieht, nicht begeistert zeigt. Doch schon bald wird das Theater selbst zum Modell des stalinistischen Totalitarismus. Verblüffend aktuell und zugleich humorvoll präsentiert sich Solomonovs Stück. Regisseur Theodor-Cristian Popescu verwendet ein beeindruckendes Bühnenbild mit 36 von der Decke hängenden riesigen Eimern, die als Reflektoren dienen. Die live am Klavier gespielte Musik ist neben dem Licht-Design ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die Inszenierung. Der Regisseur bespielt den gesamten Theatersaal und legt großen Wert auf Details. Erschreckend ist die Szene, in der der Darsteller – zwischen den Zuschauern stehend – vom Balkon aus die Rollen brüllend neu besetzt. Ein kluger Regie-Einfall, Machtausübung darzustellen. Hinzu kommt die Markierung von Stalins Pfeife an der Rampe durch Scheinwerfer. Ein weiteres Beispiel für die Allgegenwart des Diktators. Vor allem aber sorgen die großartigen Schauspieler für einen kurzweiligen Abend.

Mit seinen 84.000 Einwohnern liegt Suczawa nahe der Grenze zur Ukraine und Moldawien. So umfasste das Programm der achten Auflage Auftritte von Theatergruppen aus diesen beiden Ländern, aber auch Vorstellungen rumänischer Theater, die sich den politischen Konflikten in der Region widmeten. Die Geschichte von Ich liebe dich! Ich liebe dich! Ich liebe dich! spielt im russisch-georgischen Krieg 2008. Die unter der Regie von Andro Enukidze aus Georgien im Theater von Botoşani (45 km östlich von Suczawa) entstandene Produktion vermittelt einen klassischen Eindruck in Bühnenbild und Kostüme. Die zum Teil melodramatische Handlung des Textes des ebenfalls georgischen Autors Avtandil Varsimashvili wird durch viele humorvolle Szenen und Personen aufgeheitert, wie den Selbstgesprächen einer Vogelscheuche oder den Dialogen zwischen einer Statue und einem toten Soldaten. 

Occident Express (c) Amedeia Vitega
Occident Express (c) Amedeia Vitega

Höhepunkte für Jugendliche und Erwachsene

 

Auf dem Programm standen außerdem Theaterworkshops für Kinder und Jugendliche sowie zahlreiche Shows mit und für Schüler entwickelt unter der Leitung der Schauspieler des Gastgebertheaters. Im Allgemeinen widmet das Theater seine besondere Aufmerksamkeit der kulturellen Bildung von Kindern und Jugendlichen. Ein weiterer Beweis dafür ist der internationale Matei-Vişniec-Dramatikwettbewerb, unterstützt vom Rotary Club Suczawa Bukowina, einem der unzähligen Sponsoren des Festivals. Darüber hinaus wurde eine Neuinszenierung von Matei Vişniecs Text Occident Express in der Regie von Alain Timár im ehemaligem Ballsaal des historischen Stadtbahnhofs Burdujeni gezeigt. Überhaupt fand das breite Spektrum an Indoor- und Outdoor-Veranstaltungen an nicht weniger als 20 Spielplätzen in den umliegenden Städten der Region statt.

Wer hat meinen Vater umgebracht (c) Andrei Gandac
Wer hat meinen Vater umgebracht (c) Andrei Gandac

Ein mit Spannung erwartetes Highlight war die Produktion des Metropolis-Theaters aus Bukarest Wer hat meinen Vater umgebracht. Regisseur Andrei Măjeri verlegt die Geschichte des Romans von Édouard Louis in eine Turnhalle und setzt dabei von Beginn an auf eine Vervielfachung des Protagonisten in einer rein männlichen Besetzung. Das mit Turngeräten bestückte Bühnenbild suggeriert Konfrontation, Wettbewerb und Männlichkeit. Eine Männlichkeit, der sowohl Vater als auch Sohn Tribut zollen werden. Die intensive, visuell beeindruckende und dynamische Inszenierung weist tiefgründige sozial-politische Bezüge zur unterdrückten Sexualität, Mobbing und übermäßiger körperlicher Arbeit auf. Eine für die rumänische Theaterszene außergewöhnliche Produktion über Identität, Armut und Familientrauma mit sechs brillanten, sehr jungen Schauspielern in einem performativen Rahmen, der auf Gruppenchoreografie basiert. Alle sechs Künstler bewegen sich gut, und die von Andrea Gavriliu ausgearbeitete Choreografie ist alles andere als einfach. Es ist kein Zufall, dass die Vorstellungen in Bukarest immer ausverkauft sind.

(c) Irina Wolf
(c) Irina Wolf

Weiters konnten Besucher die Werke etablierter Regisseure wie Radu Afrim, Radu Apostol oder Alexandra Badea sehen. Lesungen, Buchpräsentationen und Podiumsdiskussionen ergänzten das Programm. Neben vielen Theaterdarbietungen waren im Festival auch musikalische Programmpunkte zu entdecken. Ein wahres Projekt der Kulturdiplomatie bot ein Konzert im Innenhof der Fürstenburg Suczawas. Das vom Komponisten Tibor Cari geleitete Orchester bestand aus Instrumentalisten aus mehreren rumänischen Städten. Vier Frauen vermischten ihren individuellen Stil, ihren Charakter und ihr Können zu einem einzigartigen Gesangs-Cuvée und ließen ihren Charme stimmgewaltig über die Bühne gleiten. Ihnen schlossen sich zwei Schauspieler des Gastgebertheaters an. Es ist genau diese Mischung aus individueller Interpretation und kollektiver Gestaltung, die trotz der eisigen Kälte zu einer fabelhaften Stimmung beitrug. Besucher ließen sich den Spaß nicht verderben, sangen und tanzten mit zu mitreißenden Klängen, inspiriert von rumänischen, ungarischen, serbischen, kroatischen und deutschen Folklore-Themen.

(c) Irina Wolf
(c) Irina Wolf

Jeder Programmpunkt war ein vorzügliches „Stück Kuchen“ für Kulturdiplomatie, um im Einklang mit dem originellen Festivalplakat zu bleiben, auf dem eine Torte als Kopfbedeckung den fröhlichen Ausdruck der Festspiele unterstreicht.