(c) Amedeia Vitega
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Theater für den Frieden im Nordosten Rumäniens

 (6. Juni 2023)

 

Als eines der jüngsten Theater Rumäniens lässt sich die Einrichtung in Suceava, Zentrum der historischen Region Bukowina, bezeichnen. Höhepunkt der Saison des 2015 gegründeten und nach einem bekannten französischen Dramatiker rumänischer Herkunft benannten Stadttheaters ist das internationale Festival „Die Tage des Matei-Vişniec-Theaters“. Vom 18. bis 28. Mai vereinte die diesjährige Ausgabe 64 Veranstaltungen unter dem Motto „Frieden“, ein Thema, das zumindest in diesem Teil der Welt in den letzten Jahrzehnten dringender denn je zu sein scheint. Zu erleben gab es eine Menge: Puppentheater, audio-visuelle Installationen, Workshops für Kinder und Jugendliche, Produktionen staatlicher und freier rumänischer Theater, Aufführungen lokaler Schüler- und Studentengruppen sowie eine große Palette an Konferenzen, Konzerten, Ausstellungen und Buchpräsentationen. Neben dem Theatersaal – einem adaptierten Kinosaal mit einer Kapazität von 250 Sitzplätzen, wurden auch außergewöhnlichere Spielstätten wie Synagoge, Universität, Wasserkraftwerk und Museum bespielt. Mit einer Reihe von unterhaltsamen Aufführungen im Freien sowie in der Nachbarstadt Rădăuţi – Matei Vişniecs Geburtsort – ließ sich eine große Zielgruppe nachhaltig erreichen.

(c) Amedeia Vitega
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Krieg und seine Folgen

Weltbekannt für die bemalten Klöster der Bukowina – UNESCO-Weltkulturerbe, befindet sich Suceava nur 40 km von der ukrainischen Grenze und knappe 100 km von der Grenze zu Moldawien entfernt. Kein Wunder, dass drei Theater aus Moldawiens Hauptstadt Chişinău ihre Werke in Suceava präsentierten. Das Nationaltheater „Satiricus“ unter der Leitung von Alexandru Grecu war gleich mit zwei Produktionen vertreten. Es gebührte aber Regisseur Slava Sambriș, Direktor des moldawischen „Luceafărul“-Theaters, die Festivaltage mit der Premiere Obstgarten – eine moderne Bearbeitung von Tschechows „Der Kirschgarten“ – zu eröffnen.

Gerade wegen ihrer inhaltlichen, gesellschafts- und kulturpolitischen Bedeutung stand jedoch die Produktion des Nationaltheaters „Mihai Eminescu“ aus Chişinău im Vordergrund. Petru Hadârcă verknüpft in Die Falle Michail Bulgakows Biografie mit den Charakteren und Ereignissen seines Stücks „Die Flucht“. Virtuos spielt der Regisseur mit dem Politischen und Imaginären. Als kollektive Gruppe von erschreckender Macht treten immer wieder Charaktere verkleidet als Küchenschaben auf. So lotet Petru Hadârcă in dem Stück das Verhalten von Menschen während des Zusammenbruchs des Russischen Reiches aus und zeichnet das Porträt einer Gesellschaft, die unausweichlich von Parasiten befallen ist. In sich schlüssig und getragen von einer starken Ensembleleistung fesselte die Inszenierung durch ihre kühnen Brüche im Erzählstrang, ihre hyperbolischen Referenzen an Bulgakows Welten und eine klug austarierte Personenregie.

(c) Amedeia Vitega
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Als ganz besonderer Gast zeigte das Dramatheater „M. S. Shchepkin“ aus dem ukrainischen Sumy die Eigenproduktion Haut und Himmel. Im Stück von Dimitré Dinev – einem in Österreich lebenden Schriftsteller bulgarischer Herkunft, treffen zwei Menschen auf dem Schlachtfeld aufeinander: ein Soldat und eine Frau, die sich Wertgegenständen von Leichen bedienen. Gekonnt hebt die Inszenierung des moldawischen Regisseurs Radu Ghilaş den zwischen Zynismus und Idealismus pendelnden Dialog hervor und beweist, dass die Kraft der Liebe auch dann bestehen bleibt, wenn die Hoffnung verloren geht. Als beim Schlussapplaus die ukrainische Flagge von den Künstlern entrollt wurde, sorgte dies für einen Gänsehaut-Moment beim Publikum. Uns wurde noch einmal bewusst, wie nahe der Krieg tobt.

Eine Hommage an Frauen und Juden

Auch Elise Wilks Stück Verschwinden berichtet vom Trauma einer Gesellschaft. Dabei folgt die Autorin der Geschichte der Siebenbürgen-Sachsen zwischen Deportationen und Emigrationen und stellt die Erfahrung von drei Frauen aus drei Generationen einer Familie in den Mittelpunkt. Ein international erfolgreicher Text, der in Suceava von Regisseur Cristian Ban in der Produktion des „Andrei Mureșanu“-Theaters aus Sfântul Gheorghe gezeigt wurde. Neben sozial-politischen Friedenswünschen behandelten Gastspiele auch Familien- und persönliche Konflikte. Die ganze Stille der Welt ist ein Querschnitt der Mutter als „Schlachtfeld“ zwischen den Bedürfnissen des Kindes und der Außenwelt. Mihaela Michailovs Monodrama spricht über eine alleinerziehende Mutter zweier Burschen, von denen einer an einer schweren Form von Autismus leidet. Radu Apostols Inszenierung – produziert beim Bildungstheaterzentrum Replika in Bukarest, ein Theater der freien Szene, beeindruckt durch Feingefühl und Poetik. Die weibliche Figur und ihre Konflikte werden auch in Mutter behandelt, eine Produktion des Nationaltheaters „Radu Stanca“ aus Hermannstadt (Regie Mariana Cămărășan). Das Stück von Marta Barceló erzählt die Geschichte zweier Frauen, die die Chance erhalten, ihre Einsamkeit zu teilen und einen Grund zu finden, das Leben zu genießen. 

(c) Amedeia Vitega
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Mehrere Stücke von Matei Vișniec standen auf dem Programm, so zum Beispiel Die Rückkehr nach Hause (http://www.aurora-magazin.at/medien_kultur/wolf_fitpti_22_frm.htm), Der zum Tode verurteilte Zuschauer oder Occident Express. Letzterer gilt als einer der Höhepunkte des Festivals, handelt es sich ja dabei um eine fremdsprachige Inszenierung des gastgebenden Theaters. Anhand der Metapher des Orient-Express-Luxuszuges erzählt der Autor von den Fantasien derer, die in Osteuropa von einem besseren Leben im Westen träumen. Darüber hinaus ist Occident Express auch ein Abbild des wilden Kapitalismus, der die kommunistische Utopie im Osten abgelöst hat. Regisseur Alain Timár, Intendant des Théâtre des Halles, schafft eine minimalistische Inszenierung mit drei Top-Schauspielern des Gastgebertheaters, die perfekt Französisch sprechen. Somit sind die Voraussetzungen für erfolgreiche Darbietungen beim diesjährigen Festival in Avignon bestens erfüllt. 

Alain Timár und Matei Vișniec traten auch mit der performativen Lesung Erinnerung an Orte, Erinnerung an Worte in den Synagogen in Suceava und Rădăuţi auf. Zusammen mit zwei Schauspielern und dem Musiker Marius Alexandru Aluncărițe bekräftigten die beiden den Frieden. Nach einer kurzen Einleitung, die sich mit der Deportation der Juden aus der Bukowina im Jahr 1941 befasste, folgte ein von Timár gesprochenes Gebet auf Hebräisch. Vișniecs Text, bestehend aus fünf Modulen („Fleischfressende Schmetterlinge“, „Das Tier mit vier Mündern“, „Schädlingsschnecken“, „Menschen mit grünen Augen“, „Der Fehlerbeheber“), erinnerte daran, dass die Gefahr der Wiederholung des Bösen überall lauert: sowohl außerhalb des Menschen als auch in seinem Inneren.

(c) Amedeia Vitega
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Spielerisches und komödienhaftes Ende

Bei der Akademie, die Produktion des Theaters „Mihai Eminescu“ aus Botoșani – nur 40 km östlich von Suceava entfernt, bot einen angemessenen, schwungvollen Abschluss. Alexandra Felseghi greift in ihrem Text eine Reihe von ländlichen Themen auf. In einem fiktiven Dorf (erkennbar allerdings an der verwendeten Sprache) wird im Winter ein Fest organisiert. Stattfinden soll es in einer Kneipe namens „Akademie“. Die Organisation des Festes verändert die Dynamik des Ortes und belebt die Bevölkerung. Eine Reihe dramatischer Ereignisse erschüttert die Stimmung und führt zu tiefgreifenden Veränderungen in den Machtverhältnissen. Das Stück setzt sich mit den gängigsten Klischees der Dörfer auseinander. Jenseits des Humors bleibt jedoch ein bitterer Nachgeschmack: Es ist die Geschichte von Menschen, deren Universum auf dem Weg zum Aussterben ist. Es war das Bedürfnis von Regisseur Andrei Măjeri, eine Hommage an die ländliche Welt Rumäniens zu bringen. Das Bühnenbild (Adrian Balcău) präsentiert eine Collage aus Perser- und Bauernteppichen, umringt von Schneebergen, die auf einer rechteckigen Minibühne platziert sind. Besonders beeindruckend sind die zahlreichen weißen Plastikstühle, die von der Decke hängen – ein Symbol für die Einsamkeit des Dorflebens. Selbstverständlich werden Machtfiguren wie der Bürgermeister oder der Priester scharf ins Visier genommen. Umso bemerkenswerter für mich, dass im ausverkauften Saal etliche Kirchenvertreter und Nonnen im Publikum saßen! 

 

Von Klein bis Groß versammelten sich anschließend hunderte Zuschauer auf dem Platz vor dem Theater, um einer eindrucksvollen Feuerwerk-Show beizuwohnen. Begleitet wurden die Theaterabende von zahlreichen Ausstellungen im Freien, im Theaterfoyer und in der -bibliothek mit auffallenden Namen wie „Kulturelle Nachspeise“, „George Banu – der Geschichtenerzähler“ oder „Wörter, die sich verlaufen haben“. Letzteres war für mich ein absolutes Novum: Um alte Bücher vor dem Wegwerfen zu bewahren, wählte Luana Popa bestimmte Wörter aus Seitentexten heraus, kreiste diese ein und bildete damit neue Sätze. Der Rest der Seiten war von einer fantasievollen Zeichnung bedeckt. Ein weiteres Beispiel für das Panorama der Vielfalt, Diversität und Qualität der künstlerischen Arbeiten, die das internationale Festival „Die Tage des Matei-Vişniec-Theaters“ 2023 präsentierte.


Woyzeck (c) Czinzel Laszlo
Woyzeck (c) Czinzel Laszlo

Sechstägiger Showcase am Nord-Theater in Sathmar:

berührend, humorvoll und mitreißend

 (11. April 2023)

 

Höchst selten bekommen wir einen Hund auf der Bühne zu sehen. Und noch dazu einen wunderschönen Schäferhund! Mit dieser Überraschung hat das Publikum der Woyzeck-Aufführung der ungarischsprachigen Gruppe „Harag György“ am Nord-Theater im rumänischen Sathmar definitiv nicht gerechnet. Es ist kein Geheimnis, dass der Hund der beste Freund des Menschen ist. So hebt die auf der Bühne wiedergegebene Beziehung zwischen dem Protagonisten und dem Vierfüßler Paco – „Künstlername“ Andres – das Trauma des von Brutalität gekennzeichneten Lebens von Woyzeck besonders hervor. Doch nicht nur das Tier, auch die gesamte Inszenierung besticht durch ihre einzigartige Ausdruckskraft, begleitet von live interpretierten Rammstein-Liedern. Das explosive Rockkonzert in der Regie von Albu István respektiert getreu den Erzählfaden von Büchners Drama. Während die Musikstücke die depressiven Halluzinationen des Protagonisten, der zwischen seinen militärischen und moralischen Pflichten gefangen ist, veranschaulichen, unterstreichen das metallische Bühnenbild mit seinen käfigartigen Strukturen (Szőke Zsuzsi) und die präzise Lichtsetzung (Albu István und Erőss László) die düstere Stimmung gekonnt. Regisseur Albu István hat eine beklemmende Atmosphäre geschaffen, getragen von den grandiosen Schauspieler:innen, die vorlagengetreu auf Deutsch sangen und sich auch als Meister der Instrumente – Gitarre, Violine, Bratsche, Schlagzeug kamen zum Einsatz – erwiesen.

Momo (c) Karoly Suveg
Momo (c) Karoly Suveg

Mit fünf weiteren bemerkenswerten Produktionen beeindruckte der Showcase des Nord-Theaters (Teatrul de Nord), der vom 28. März bis 2. April in Sathmar (Satu Mare), der Hauptstadt des gleichnamigen Kreises im Nordwesten Rumäniens, dicht an der Grenze zur Ukraine und zu Ungarn, stattfand. Das Einzigartige an diesem Theater sind die zwei Theatergruppen, die hier tätig sind: die rumänischsprachige (benannt nach dem Regisseur Mihai Raicu) und die ungarischsprachige (benannt nach dem Regisseur und Schauspieler Harag György). So wurden im Theatersaal mit einer Kapazität von bis zu 426 Zuschauer:innen abwechselnd je eine rumänische und ungarische Produktion mit Übertitelung in der jeweils anderen Sprache an sechs aufeinanderfolgenden Abenden gezeigt.

 

Zeitgenössisches in bester Aufführungsqualität

Momo, die von der Hausregisseurin Diana Dragoş in Szene gesetzte Eröffnungsproduktion des Showcases war – im Einklang mit dem gleichnamigen Roman von Michael Ende – poetisch und atmosphärisch zugleich. Die Welt, die das Mädchen namens Momo vor böswilligen Avataren retten muss, präsentiert sich in einer zunehmend vom Kapitalismus geprägten Gesellschaft mechanisiert und roboterhaft. Regisseurin Diana Dragoș setzt auf eine wirkungsvolle Art und Weise Technologie ein, indem Schauspieler:innen mit Projektionen auf einer weißen Filmleinwand interagieren oder von einer darüber schwebenden Kamera gefilmt werden.

Hochzeit in Oas (c) Tibor Jäger
Hochzeit in Oas (c) Tibor Jäger

Ergänzt wurde das Programm der „Mihai Raicu“-Gruppe durch zwei zeitgenössische Stücke. Hochzeit in Oaş (Nuntă în Oaş) basiert auf Anca Munteanus Text, der 2022 in der dramatischen Schreibwerkstatt „Drama5“ beim Kreations- und Experimentreaktor in Klausenburg entstand. Aus den witzig-spritzigen Dialogen lässt sich ein ironischer Unterton heraushören. Denn das Stück spricht mit viel Humor über die heutige Welt, vor allem aber über das Phänomen der Auswanderung. Seit 2002, als rumänische Staatsbürger:innen ohne Visum in die EU einreisen durften, sind drei bis vier Millionen Bürger:innen in den Westen abgewandert – ungefähr jeder fünfte bis sechste Rumäne verdient sein Geld im Ausland. Die Handlung spielt in einem Dorf in Ţara Oaşului, der historischen Region in Nord-Siebenbürgen, die rund 600 Kilometer von der Hauptstadt Bukarest entfernt liegt. Die Gegend ist untypisch für Rumänien: Zahlreiche Orte schwimmen im Geld, denn viele aus den Dörfern haben sich als erfolgreiche Bauunternehmer im Ausland niedergelassen. Um ihre protzigen Villen daheim kümmert sich meist nur noch die ältere Generation. 

Hochzeit in Oas (c) Tibor Jäger
Hochzeit in Oas (c) Tibor Jäger

Anca Munteanus Erzählung folgt einer jungen Frau, die im Begriff ist zu heiraten. Die Gefühle der einundzwanzigjährigen Braut verwandeln sich schnell in den verzweifelten Wunsch, die Hochzeit um jeden Preis zu vermeiden. Währenddessen versucht sie immer wieder, den Mut aufzubringen, über die Probleme zu sprechen, die sie plagen. Denn eigentlich möchte sie in Klausenburg studieren anstatt eine Familie zu gründen. Doch handelt es sich nicht um eine feministische Auseinandersetzung, denn der Text lässt erahnen, dass es auch die Männer schwer haben. Cristian Bans Inszenierung und die aus den Improvisationen der Schauspieler:innen entstandenen Textergänzungen sorgen für Slapstick-Momente und viele Lacher, aber auch für Momente der Stille, des Nachdenkens. Tudor Prodan, der für Bühnenbild und Kostüme verantwortlich zeichnet, verstand es auf hervorragende Art und Weise eine Hochzeitsatmosphäre mit ländlichem Charakter zu schaffen. Die bewusst eingesetzten Kontraste verstärken die humorvolle Seite der Geschichte: Ein Betonmischer dreht sich vor einem Saal mit prächtigen Kronleuchtern, die Gäste müssen auf billigen Plastiksesseln Platz nehmen, die Braut betritt die Bühne in Hochzeitskleid, Jogger-Jacke und Flip-Flops. Die Oaş-Gegend wird im Guten wie im Schlechten enthüllt. Besonders hervorzuheben sind die von Cristina Milea entworfenen Hochzeitskostüme in der spezifischen Volkstracht der Region. Vergangenheit und Gegenwart werden eng miteinander verwoben durch die vom Komponisten Vlad Giurge raffiniert gemischte traditionelle Musik mit Pop- und Elektroelementen. Erwähnenswert ist auch das originelle „Programmheft“, bestehend aus sechs kleinen Blättern, auf deren Rückseite je ein Hundert-Euro-Schein abgebildet ist. Durch spritzige Dialoge, gepaart mit unzähligen Missverständnissen, entwickelt sich ein schwungvolles Stück mit einem höchst unerwarteten Ende.

Freetime (c) Tibor Jäger
Freetime (c) Tibor Jäger

Zu einer turbulenten Komödie lud Freetime ein. Der von Gian Maria Cervo und den Presnjakow-Brüdern im Rahmen eines internationalen kollektiven Schreiblabors verfasste Text ist eine Mischung aus wütender Farce, Detektivgeschichte, Actionfilm und philosophischen Gedanken. Ausgehend vom Konkurs der US-Investment-Bank Lehman Brothers, der 2008 zur Auslösung der globalen Finanzkrise führte, erkundet das Stück die letzten Jahre der europäischen und globalen Geschichte. Entstanden ist ein Werk, das eine Vielfalt an Themen behandelt, darunter Grenzen, Migration und Entwurzelung, wobei auch Kritik an der EU, an künstlicher Intelligenz und umstrittener zeitgenössischer Kunst nicht fehlen.

Ironisch-bitter wirkt schon das von Steffi Rehberg gestaltete Bühnenbild: Ein Porzellantoilettenbecken, das an Marcel Duchamps berüchtigte „Fontaine“ von 1917 erinnert, ist in der Mitte der Bühne vor riesigen, halbtransparenten Würfeln – die sogenannten „Open Cubes“ des amerikanischen Künstlers Sol LeWitt – platziert. Das geschickt gehandhabte Videokonzept (Vincenzo Marsiglia) ist für das Schaffen einer bestimmten Atmosphäre ebenso wichtig wie die klug ausgewählte Musik (Saga Björklund Jönsson), die sich nie in den Vordergrund drängen, aber Szenen unglaublich dicht illustrieren. Licht- und Rauchspiele sowie bewusst eingesetzte Requisiten veranschaulichen perfekt das Chaos der heutigen Gesellschaft. 

Freetime (c) Tibor Jäger
Freetime (c) Tibor Jäger

Durch die Verflechtung von scheinbar zusammenhanglosen Szenen, die in nicht-linearer Reihenfolge erzählt werden, wird der Betrachter in eine Abfolge unterschiedlicher Zustände versetzt, die sich ständig verändern und das Ganze zu einem spannenden Erlebnis machen. Der deutsch-schweizerische Regisseur Nicola Bremer fügt dem Stück eine neue Ebene hinzu, einen roten Faden, der alle Szenen vereint. Der experimentelle Text folgt einem Mann, der mehrere Leben führt. In all den parallelen Realitäten versucht er, sein Bedürfnis nach Bestätigung und Anerkennung zu stillen. Die lähmende Angst vor Einsamkeit führt ihn ständig dazu, Kompromisse einzugehen und seine Energie zu opfern, um es allen recht zu machen. Für Nicola Bremer stellen die Parallelwelten nur Teile eines Albtraums dar, aus dem der Protagonist versucht – und es am Ende auch schafft – sich zu befreien. Sowohl das Stück als auch die anspruchsvolle Art der Inszenierung verlangen den Schauspieler:innen sehr viel ab – und alle sind der Herausforderung gewachsen. Als Ergebnis einer internationalen Zusammenarbeit mit dem Teatro Stabile delle Arti Medioevali und dem Festival Quartieri dell'Arte, regt Freetime die Fantasie der Zuschauer:innen an und öffnet neue Erfahrungsräume.

Csongor und Tünde (c) Czinzel Laszlo
Csongor und Tünde (c) Czinzel Laszlo

Klassiker in grandioser neuer Aufmachung

Es ist kein Zufall, dass der Showcase sehr gut besucht war. Heiter ging es zu in den zwei weiteren Produktionen der „Harag György“-Gruppe. Beide bewiesen, dass zeitgenössisches Schauspiel sich an klassischen Texten entzünden kann. Die dramatische Dichtung Csongor und Tünde des ungarischen Schriftstellers Vörösmarty Mihály wurde in der Gattung Gesamtkunst zu neuem Leben erweckt. Das Märchenspiel der ungarischen Romantik ist volkstümliches Feenmärchen und philosophische Utopie in einem. Erzählt wird die wechselvolle Liebesgeschichte des Junkers Csongor, der verbotenerweise ins Feenreich eindringt, und der Fee Tünde, die dem Geliebten, mehrfach entrissen durch die Machtspiele der Hexe Druse und ihrer Teufelssöhne, schließlich auf die Erde folgt. Aber erst muss der „Dreierweg des Irrtums“ voll ausgeschritten werden. Auf der Suche nach „Heilsheim“ durchwandert Csongor Welt und Kosmos, erlebt Anmaßung und Scheitern des irdischen Strebens, ehe ihm das Ziel seiner ewigen Sehnsucht, die Liebe, näherrückt.

 

Csongor und Tünde (c) Czinzel Laszlo
Csongor und Tünde (c) Czinzel Laszlo

Die kongeniale Inszenierung des russischen Regisseurs Sardar Tagirovsky erschließt Kindern die fantastische Märchenebene und ermöglicht Erwachsenen die genussvolle Rezeption dieses Werks der Weltliteratur – Pflichtliteratur in der 3. Klasse Oberstufe an ungarischen Gymnasien. Unheimlich konzentriert und aufnahmefähig wirkte das hauptsächlich aus Jugendlichen und Studenten bestehende Publikum während der viereinhalb Stunden (mit zwei Pausen). Die Mischung aus klassischem Theater und innovativem Stil brachte Frische in das epische Drama für Kenner und gab auch Laien einen Überblick über Leben und Werk des Dichters. Dies war auch der Dramaturgie von Bessenyei Gedö István zu verdanken, der das Gedicht durch einleitende Texte zu Beginn eines jeden Aktes bereicherte. Dazu trug auch ein wohlüberlegter Regieeinfall bei: Zwei Schauspieler waren auf der Bühne allgegenwärtig und spielten den Autor des Textes selbst bzw. die Frau, die dieses romantische Gedicht inspiriert hat. Ihre ausschließlich auf Gesten basierende Interpretation vertiefte das Mysterium.

Mit einer umfangreichen Besetzung und einem passenden Bühnenbild (Kupás Anna) würdigte die Inszenierung in ihrer technischen und erzählerischen Komplexität diesen Meilenstein der ungarischen Romantik des 19. Jahrhunderts. Eine aufgehängte Videokamera oder rotierende Scheibe auf dem Boden nutzten die besonderen Fähigkeiten der Bühne, die im Nord-Theater zur Verfügung stehen. Auf jedes kleinste Detail wurde geachtet, um die märchenhafte Atmosphäre hervorzuheben: Ein „goldener Apfel“ stieg von der Decke herab, ein Stock glitt von selbst über die Bühne. Aus ästhetischer Sicht atemberaubend! Noch dazu nutzte die Inszenierung gekonnt den Saal und die vorderen Logen im Parkett. Denn die Schauspieler:innen beschränkten ihr Spiel nicht nur auf die Bühne.

Anatevka (c) Czinzel Laszlo
Anatevka (c) Czinzel Laszlo

Mit Anatevka, dem 1964 am Broadway uraufgeführten Werk von Joseph Stein und Jerry Bock endete der Showcase in Sathmar vor nahezu vollen Rängen, mit einer großen homogenen Besetzung bestehend aus über dreißig Schauspieler:innen und sechs Musiker:innen des Orchesters der lokalen Philharmonie „Dinu Lipatti“ im Orchestergraben. Eine Wohltat für Augen, Ohren und Herz. Auch, weil Márkó Eszters Inszenierung berührt und gekonnt zwischen Glück und Tragik balanciert. Das Musical mit weltbekannten Liedern wie „Wenn ich einmal reich wär’“ will vor allem Hoffnung in schwierigen Zeiten machen.

 

Anatevka (c) Czinzel Laszlo
Anatevka (c) Czinzel Laszlo

Die enge Welt von Anatevka, dem Schtetl im zaristischen Russland des Jahres 1905, das von Traditionen, Vorgaben und Erwartungshaltungen geprägt ist, wird im Bühnenbild von Bodor András spürbar. In der Vorliebe für Holz spiegelt sich die ländliche Landschaft wider. Die Fronten der Häuser stehen eng beieinander; einige geben Einblick in die privaten Räume. Innen und außen, gesellschaftliches und privates Leben verschwimmen. Gleichzeitig lässt die Häuserzeile ausreichend Raum für die großen Ensemblenummern, bei denen das gesamte Ensemble die Menschen im Publikum voller Spielfreude für sich einnimmt. Darabos Péters Choreografie und die sprühende Energie der Schauspieler:innen aller Altersgruppen nimmt die Zuschauer:innen mit auf eine Reise durch Raum und Zeit. Die sehr gelungenen Kostüme von Kupás Anna vervollständigen den überaus positiven Gesamteindruck. Private Momente des Glücks stehen bedrohlichen gesellschaftlichen Entwicklungen und Spannungen gegenüber. Dieses Wechselspiel bringt Regisseurin Márkó Eszter eindringlich und gleichzeitig unterhaltsam auf die Bühne. Sie nimmt die Zuschauenden mit in den Mikrokosmos eines Schtetls aus dem frühen 20. Jahrhundert und rückt dabei gezielt die auch heute noch aktuellen Themen wie Heimatverlust, Flucht und Vertreibung in den Fokus. Und doch behält die Inszenierung bis zum Ende ihren Optimismus.

Matti, der Gänsejunge (c) Czinzel Laszlo
Matti, der Gänsejunge (c) Czinzel Laszlo

Puppentheater vom Feinsten

Zum Abschluss gab es noch ein letztes Schmankerl: Eine Premiere des Brighella-Puppentheaters, das heuer sein 20-jähriges Bestehen als Teil der ungarischen Abteilung feiert (die „Harag György“-Gruppe selbst wird im Herbst dieses Jahres ihr 70-jähriges Jubiläum zelebrieren). Matti, der Gänsejunge (Lúdas Matyi) heißt das Anfang des 19. Jahrhundert von Mihály Fazekas geschriebene Poem, das auf Volkserzählungen unbekannter Herkunft basiert. Die Geschichte ist schnell erzählt: Als Matti, ein nichtsnutziger Junge, versucht, sechzehn Gänse auf dem Markt zu verkaufen, ärgert sich der örtliche Landadlige, dass Matti ihm den Preis vorschreibt. Die Gänse werden beschlagnahmt und Matti mit Schlägen bestraft. Als Matti erklärt, er werde alles dreifach zurückzahlen, bekommt er noch eine weitere Portion Schläge. Nachdem Matti einige Jahre in anderen Gegenden verbrachte, kehrt er in das Dorf zurück und schafft es tatsächlich durch List und Schlauheit, sein Versprechen zu erfüllen. Die Geschichte ist ein ironischer Fingerzeig an die Landadligen, einfache Leute nicht grundlos zu bestrafen. Matti ist der erste Volksheld der ungarischen Literatur, der über seinen Herrn siegt. Im kleinen Saal, der der Brighella-Gruppe gehört, erlebten zwei Volksschulklassen Unterhaltung vom Feinsten. Die kleinen Gäste fieberten mit Matti lautstark mit und halfen Matti, Gerechtigkeit zu schaffen. 

 

Besonders nennenswert ist auch, dass jeder Aufführung ein Publikumsgespräch folgte – eine bereichernde Initiative, die sowohl Einblick in die Zusammenarbeit zwischen Schauspieler:innen und Regisseur:innen verschaffte sowie zu einem regen Austausch der Anwesenden führte. Überhaupt war die Stärke des Showcases sein Vermittlungsanspruch. Die beispielhafte Organisation und der reibungslose Ablauf sind nicht zuletzt den Direktoren der zwei Theatergruppen, Bessenyei Gedö István und Ovidiu Caiţa, und ihren Teams zu verdanken. Selten wurde ich derart gut unterhalten und meine Seele berührt wie in Sathmar.

 

(siehe auch www.aurora-magazin.at vom 13.05.2023)