MALAGOLA – berauschender Aufbewahrungs- und Innovationsraum
Irina Wolf
(12.12.2021)
Es sind insgesamt fünfzehn Jugendliche, die sich im Praxisraum des Malagola-Palastes aufhalten. Jeder trägt ein kleines spiralenförmiges Blasinstrument mit sich. Einige Teilnehmer lehnen sich an die Wände, andere sitzen im Schneidersitz, das Gesicht zur Zimmermitte gewandt. Dort befinden sich ein Polster und ein paar Papierblätter. Es sind die Aufzeichnungen des US-amerikanischen Komponisten Alvin Curran, der seit den Sechzigerjahren in Italien lebt. Er ist auch anwesend und wird die 45-minütige Aufführung betreuen. Es herrscht Stille. Ich traue mich kaum zu atmen. Zusammen mit anderen vier Zuschauern bin ich Zeugin der ersten Präsentation des Malagola-Projektes.
Konzipiert und geleitet von Ermanna Montanari ist Malagola eine Stimmtrainingsschule. Das Projekt hat seine Wurzeln in Montanaris vierzigjähriger, mehrfach preisgekrönter Forschungsarbeit zur Poetik der Stimme sowie in den über die Jahrzehnte kreierten soliden Partnerschaften auf nationaler und internationaler Ebene. Neben Montanari, Mitbegründerin und künstlerische Leiterin des Teatro delle Albe/Ravenna Teatro, ist Enrico Pitozzi, Wissenschaftler und Professor an der Universität Bologna, der stellvertretende Direktor.
Austragungsort der Schule ist der gleichnamige Malagola-Palast aus dem 18. Jahrhundert. Gelegen auf der anderen Straßenseite der Basilika Sant’Apollinare in Ravenna, umfasst das prächtige Gebäude Theorie- und Praxisraum – Letzterer bereits mit speziellen schallabsorbierenden Platten ausgestattet, Tagungs- und Leseräume, einen Erfrischungsraum und mehrere Meditationsräume, die für die individuelle Arbeit der Kursteilnehmer bestimmt sind. Wurde die technologische Neugestaltung der Räume dem Sounddesigner und Musiker Marco Olivieri anvertraut, ist die visuelle Identität von Malagola vom Künstler Stefano Ricci signiert. Schon im Hauseingang ragt an der rechten Wand das Logo der Schule hervor: Das Klangsystem, das an der Decke des Raumes von einem Esel, dem Symbol des Teatro delle Albe, begleitet wird. Auch in anderen Zimmern gravierte Stefano Ricci die Steinmauern mit Holzkohle und belebte somit die kahlen Wände durch zauberthafte Figuren.
Ziel der Schule ist es, neue professionelle Persönlichkeiten im Bereich Live-Entertainment und Multimedia-Produktion zu schaffen, ein Vorhaben, das auch im kurzen poetischen Manifest von Ermanna Montanari bekräftigt wird. Die für 2021 zugelassenen fünfzehn Teilnehmer wurden aus 131 Bewerbungen ausgewählt. Unter den Lehrern sind unter anderem neben Montanari und Pitozzi berühmte Künstler wie Bonnie Maranca, Mariangela Gualtieri, Meredith Monk, Chiara Guidi, Mirella Mastronardi, Roberto Latini, Luigi Ceccarelli, Daniele Roccato, Francesca Proia zu finden. Ein Studiengang besteht aus kostenlosen Kursen, die von Oktober bis April stattfinden. Das Programm umfasst eine technisch-praktische Ausbildung, begleitet von einem vertiefenden theoretischen Teil. Die fünf angebotenen Module reichen von Ästhetikumrissen der zeitgenössischen Theaterszene über Praktiken der Stimm- und Klanggestaltung bis hin zu Physiologieumrissen der Stimme und wirtschaftlichen sowie projektbezogenen Aspekten.
Der Malagola-Palast wird gleichzeitig die audiovisuellen Dokumente des Teatro delle Albe in einem Medienarchiv verwalten. Durch den zauberhaften Garten, über den das Gebäude auch noch verfügt, eignet sich das Haus wie kaum ein anderes, um ein vibrierender Resonanzraum für Klang und Stimme zu werden.
(siehe auch www.aurora-magazin.at vom 10.03.2022)
Manifest der Stimmtrainingsschule (School of Vocality)
Die Stimmtrainingsschule ist ein Ort der Ausübung einer freudigen und sehr anspruchsvollen Disziplin, eine Einrichtung, in der man sich auf ein Abenteuer mit der eigenen Stimme und dem eigenen Körper einlässt, um eine Erfahrung zu erleben, bei der die Stimme der Körper und jede Person ein Klangplanet ist. Jeder Teilnehmer tritt als Wurzelsubstanz in die Schule ein, um dann mit der Zeit Gestalt anzunehmen. Die Schule ist ein Ort der Mehrbestimmung, bevölkert und betrieben von der Stadt und zugleich von dieser sich unterscheidend, ein Bereich kollektiver Mitverantwortung abgeleitet aus dem Bewusstsein, dass jede unserer Zellen nicht nur ein sinnlicher, sondern auch ein fantasievoller und poetischer Geschichtsträger und Erinnerungsspeicher ist.
Schule als Schweigen, lärmendes Schweigen, unerträgliche Wortquelle. Ein Ort, an dem die Wort-Sicht in ihrer mysteriösen, herrlichen, vierfachen Form verwurzelt ist: Bedeutung, Klang, Kraft und Schweigen, das Schweigen, das sie beschützt. Ein Ort, an dem alle lernen (sowohl Lernende als auch Lehrende), an dem es keine vorgeschriebenen Techniken gibt, eher eine disziplinäre Praxis, die sich der einzigartigen Form jedes Einzelnen und jedes Kollektivs anpasst. Diese Methode erfordert Zeit, Geduld und Gehorsamkeit, denn sie erlaubt dem Planeten eines jeden Individuums seinen Atem zu entdecken; dies ist weder leicht noch unmittelbar. Es wird für jeden Teilnehmer nützlich sein, sich auf das süße Gefühl einzulassen, auf den Weg des menschlichen Daseins vorwärtsgezogen zu werden, auf die Torheit weiterzumachen und zu akzeptieren, was auch immer passiert. In diesem Sinne erinnern wir uns an die Verse von Antonio Machado: „Reisender, es gibt keine Wege, Wege entstehen im Gehenˮ.
Schule als Ort des Loslassens ohne Eile, des Vertreibens der Angst, sich zu zeigen, der Krankheit sich selbst darzustellen, der Plage sich selbst zu verkaufen. Ein Lernort, um Wolken-Zuschauer zu werden, um die Grenzen unserer Grenzen auszuloten.
Schule als Ort der Auseinandersetzung mit der nördlichen Felswand unserer Stimme, der Wand, an der wir stolpern und fallen, „dunkler Waldˮ bitterer Einsamkeit. Ein Ort des Wartens. Ein Ort, um sich für den Aufstieg auszurüsten.
Schule als Ort des Experimentierens mit dem Unmöglichen, um seinen eigenen verzerrten Mechanismus zu ehren. Die Qual der Stimme ohne Körper, ihr Versagen und das Aufkommen des Staunens. Ringen wir nicht immer mit einem unsichtbaren Etwas fest und unverrückbar wie eine Wand oder ein Felsen ohne Halt? Aber was ist schöner als ein Rippstrom zu sein, sich mit den Wasserwellen treiben zu lassen, bis Klang und Rhythmus unsere Augen und Ohren hypnotisieren; der Augenblick, in dem wir mit dem Widerspruch, den uns die Natur präsentiert, konfrontiert zu werden? Und der sich manchmal in unseren Poren versteckt?
Schule als Rätsel, ein Ort des Anderen, der uns manchmal liebkost, ein anderes Mal abstößt, uns manchmal umhaut. Ort der Maske und ihrer Verbergungskraft als Wissensinstrument, eine andere, gefährliche Art, Zeichen zu sehen und zu lesen. Der Schauspieler ist derjenige, der dem Chor antwortet und sich dessen Urteil unterwirft. Die Bühne wird zum Schafott: Die Überquerung der Bühne beschwört ein stimmliches Abenteuer herauf; sie verlangt, aus demselben Stoff gemacht zu sein wie die schon dort seit Jahrtausenden bestehende, unbewegliche. An Ort und Stelle genagelt.
Schule als Archiv des Zuhörens, denn ohne Zuhören gibt es keine Stimme. Ein Ort der Farben und Spuren derer, die uns vorausgegangen sind: Antonin Artaud, Laurie Anderson, Meredith Monk, Carmelo Bene, Maria Callas, der Wind, die Rosen, das Wasser, die Gebete, die Menschen, Demetrio Stratos, Leo de Berardinis, Perla Peragallo, Janis Joplin, und andere ihrer Gefährten und Reisegefährten.
Schule als Garten, ein Ort, an dem niemand Trends hinterherläuft, keinem Geist der Mode, an dem sich niemand für das Neueste interessiert; vielmehr sehnt sich jeder zuerst danach, um das Lernen zu lernen, das selbst zu wählen, was es zu lernen gibt.
Schließlich, Schule als freudiger Samen, der sich unter der Erde verbirgt und nachts aufkeimt.
Ermanna Montanari, Ravenna, 22. Februar 2020
(siehe auch www.aurora-magazin.at vom 10.03.2022)
Rettung für Mutter Erde – Die Hoffnung stirbt zuletzt
Irina Wolf
(06.12.2021)
Mutter (Madre) heißt Marco Martinellis neues zweiteiliges Theaterstück. Auf den ersten Blick scheint es sich um einen Generationenkonflikt zu handeln: Nachdem die in die Jahre gekommene Mutter in einen Schacht gefallen ist, plant ihr Sohn, sie aus dem Loch herauszuziehen, oder zumindest äußert er diese Absicht. Wer aber mit Martinellis Werken vertraut ist, weiß, dass seine Texte mehrere Ebenen aufweisen und das Publikum vor unterschiedliche intellektuelle Herausforderungen stellen.
„Mutterˮ ist nicht nur die Darstellung eines Generationenkonfliktes. Dem Dramatiker und Regisseur Martinelli hat es ebenfalls am Herzen gelegen, sich der zerstörerischen Kraft des Menschen gegenüber der Natur anzunehmen. So verwandelt sich langsam das Bild einer dementen Greisin in die Mutter Erde. Auch der Einfluss der Technologie auf unser Leben sowie die Spaltung der Gesellschaft in der Flüchtlingsdebatte, die als Bedrohung wahrgenommen wird, sind in „Mutterˮ thematisiert.
Weichenstellung fürs Leben
Das Stück besteht aus zwei Monologen. Zum einen spricht der Sohn von außerhalb des Schachtes auf die hineingefallene Mutter ein, zum anderen ertönt anschließend vom Grund des Brunnens die Stimme der Mutter. Durch raffiniertes Zusammenfügen von Wörtern enthüllt der Sohn nicht nur das Bild der Mutterfigur, sondern vielmehr das Bild der Welt an sich. Es ist ein von Technologie geprägter, menschenleerer Lebensraum, in dem täglich das Vertrauen in den Nächsten verloren geht. Ein Gewitter scheint diese Welt zu bedrohen: „Es ist überall dunkelˮ, Drachen und „eine Herde Dämonenpferde fressen alles auf, was ihnen in den Weg kommtˮ. Und obwohl der Sohn „groß und starkˮ, ein „echter Rieseˮ ist, ist er der Auffassung, die Mutter nicht alleine aus dem Schacht herausziehen zu können. Immer wieder findet er Gründe, um sich vor seiner Aufgabe zu drücken. Letztendlich, unter der immer akuter werdenden Bedrohung des Sturms, verschwindet der Sohn, um Hilfe zu holen. Und nun kommt die Mutter zu Wort.
Sie rätselt darüber, wie sie überhaupt in den Schacht hineingefallen ist. Eine Möglichkeit wäre, dass der Sohn sie aus Versehen hineingeschubst hat. Wie blind hetzt er ständig dahin, unfähig, irgendetwas in seiner Umgebung zu bemerken oder der Stimme der Natur zuzuhören. Die Mutter erzählt auch von der Legende vom gelben Kaiser und der Spiegelwelt, in der menschliche Wesen in einer anderen Welt gefangen sind. Durch die Kraft solcher Worte entstehen eindringliche Bilder in den Köpfen der Zuschauer. Marco Martinelli ist ein Meister der Symbole. Sein Drama lässt viele Fragen offen. Wird die Mutter im Schacht bis zur Auferstehung zu Ostern bleiben, wie der Sohn andeutet? Wird die kleine Schlange, die in die Haut der Mutter eindringt, zur Erneuerung führen? Oder wird das Reptil sie zerstören? Es gibt wenige Symbole, die so vieldeutig und vielschichtig sind und eine solche Spannbreite polyvalenter Bedeutungen aufweisen.
Musik, Text und Zeichnungen verschmelzen ineinander
Die zwei Monologe sind eingerahmt von Regieanweisungen. Marco Martinelli setzt „Mutterˮ zusammen mit der Schauspielerin Ermanna Montanari, dem Zeichner Stefano Ricci und dem Kontrabassisten und Komponisten Daniele Roccato auf der Bühne um. Montanari, zugleich Autorin und Bühnenbildnerin, mit Martinelli Mitbegründerin des Teatro delle Albe in Ravenna, verkörpert beide Protagonisten: den Sohn und die Mutter. Auf der Bühne befinden sich ein Kontrabass, eine Tischlampe, deren Schein auf runde Kartonbögen fällt und ein Notenpult mit Mikrofon. An Letzterem wird Montanari im Halbdunkel stehen und den Text übermitteln. Bekannt für ihre umfangreiche Untersuchung der Stimmmöglichkeiten kann Ermanna Montanari eine große Bandbreite von Gefühlen durch die Modulationsfähigkeit ihrer Stimme ausdrücken. So wird Martinellis Text geflüstert, gesprochen, zum Teil ausgerufen; zeitweise kommt ein Knarren oder ein Krächzen aus Montanaris Kehle. Passend dazu ertönt die von Daniele Roccato komponierte Musik.
In dem Künstler-Trio spielt Stefano Ricci eine ausschlaggebende Rolle. Auf dem Boden kniend, beugt er sich über schwarze Kartonbögen und zeichnet darauf mit weißer Kreide mit dem Text übereinstimmende Figuren und Orte, die in Echtzeit auf die hintere Bühnenwand projiziert werden. In Windeseile entstehen die Gestalt des Sohnes, sein Gesicht, eine Schlange, der höllenartige Schacht, der Sturm, die Mutter und vieles mehr. Zeitgleich mit dem Verschwinden des Sohnes verlässt auch Montanari die Bühne, um dann mit einer langen weißen Perücke auf dem Kopf zurückzukehren. Ein Symbol des Alters und der Weisheit der Erde. Die Aufführung, zusammengestellt vom Künstler-Quartett, erweist sich voll von solch bildhaften Ausdrücken. Ein Fest für Augen und Ohren. Zu Recht trägt Marco Martinellis Stück den Untertitel „szenisches Gedichtˮ.
In seiner letzten Illustration skizziert Stefano Ricci die Drachenwurz. Die weiße Calla als Symbol für Unsterblichkeit und zugleich als beliebte Blume für Beerdigungen. Ein offenes Ende?
„aber vor allem,
gib nicht auf,
verliere nie die Hoffnungˮ, ist die letzte Botschaft, die Martinellis Text überliefert. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
(siehe auch www.aurora-magazin.at vom 07.02.2022)