Leta Popescu: Experiment Bürgerbeteiligung

 
Miruna Runcan

 

Nachdem gegen Ende des vorherigen Jahrzehnts das von m.chris.nedeea geleitete „unmögliche Theater“ gezwungen wurde, seine Pforten aus Mangel an Finanzen zu schließen, übernahmen in Klausenburg die Pinsel-Fabrik und vor allem die Gruppen ColectivA und GroundFloor die Aufgabe zur Erstellung eines neuen Konzeptes für das Betreiben der unabhängigen Theaterszene. Die besten Beweise für das Gelingen des Vorhabens sind das Temps d'Images Festival sowie eigene Produktionen und mutige Koproduktionen.

 

2014 sind weitere Initiativen entstanden, die Führungskraft, Talent, Großzügigkeit und Bürgerengagement auf eine hochwirksame Art und Weise verknüpfen. So gründeten Oana Mardare und Doru Taloş den „Kreations- und Versuchsreaktor“ (Reactor). Nach mehreren Aufenthaltsjahren in Spanien kehrten die zwei Absolventen der Schauspielabteilung der Babes-Bolyai-Universität nach Klausenburg zurück und mieteten zusammen mit den ehemaligen Studienkollegen Raluca Mara, Cristian Ban und Delia Gavliţchi den Saal einer ehemaligen Werkstatt, der nur fünf Minuten vom Stadtzentrum entfernt liegt.

 

Durch eine sowohl in den Medien als auch in sozialen Netzwerken intelligent geführte Werbekampagne wandte sich die Theatergruppe des alternativen Kulturraums Reactor auf der Suche nach „Reaktionen“ an ihr potenzielles Publikum. Gleichzeitig widmeten sich die Gruppenmitglieder den Bedürfnissen der Gemeinschaft und Gesellschaft. Die Eröffnung stand ganz im Zeichen einer Debatte über die Chancen und Ziele der unabhängigen Theaterbewegung, gefolgt von einem Marathon von Aufführungen unter dem Titel „Suche eine Reaktion“. Das abwechslungsreiche Programm umfasste Vorstellungen für Erwachsene und Kinder und wurde durch Veranstaltungen wie Konzerte, Ausstellungen, Workshops und Seminare ergänzt. Reactor erfuhr eine äußerst dynamische Entwicklung, zu der neben dem vielfältigen Programm auch die ansteckende Begeisterung der Künstler beigetragen hat. Die sofortigen Auswirkungen machten sich schnell bemerkbar: Weitere Mitglieder, darunter Schauspieler, Dramatiker, Regisseure und Fotografen, schlossen sich dem Kernteam an. Immer mehr Koproduktionen wurden realisiert. Der künstlerische Austausch mit freischaffenden rumänischen KünstlerInnen, vor allem mit Reciproca, eine Gruppe bestehend aus den Regisseuren Leta Popescu und Claudiu Lorand Maxim und den Schauspielerinnen Oana Hodade und Lucia Mârneanu, wurde verstärkt gefördert. Dass dies einen Einsatz rund um die Uhr bedeutet, ist selbstverständlich. So wirft sich die Frage auf, wann die Organisatoren überhaupt die Zeit zum Schlafen finden. Jedoch stand im Mittelpunkt der Aktivität von Reactor die Erziehung eines hauptsächlich jungen Publikums. Dadurch positionierte sich der neue alternative Kulturraum endgültig auf der kulturellen Landkarte der Stadt Klausenburg.

 

PARALLEL

Ein bedeutender Teil des vom Reactor vorgeschlagenen Theaterprogramms ist der Zusammenarbeit mit Reciproca und der jungen Regisseurin Leta Popescu zu verdanken. Seit ihrem Debüt in der Pinsel-Fabrik mit Parallel, eine ergreifende Performance über die Geschlechtsidentität, bei der sie als Koautorin neben Ferenc Sinko fungierte, basiert Leta Popescus Arbeit auf zwei Grundprinzipien: Die Entwicklung von Gruppenprojekten und eine work-in-progress Dimension. Dadurch soll der Dialog zwischen Theatermachern und Publikum gefördert werden.

 

Diesen Prinzipien ist auch Parallels Erfolg zu verdanken. Die Koproduktion von GroundFloor und ColectivA wurde allein in einem Jahr auf Dutzenden nationalen und internationalen Festivals europaweit gezeigt. Obwohl der auf Choreografie spezialisierte Professor Ferenc Sinko ursprünglich nur eine One-Woman-Show mit seiner ehemaligen Studentin Kata Bodoki-Halmen geplant hatte, musste er einen weiteren Improvisationspartner ausfindig machen. So kam es zur Zusammenarbeit mit der Schauspielerin Lucia Mârneanu, die wiederum Leta Popescu für die Textbearbeitung und Regieassistenz vorgeschlagen hat. Das Ergebnis ist eine verblüffende dreiteilige Performance über die Geschlechtsidentität. Spielerisch und zugleich tragisch zersetzen beide Schauspielerinnen in parallelen und komplementären Ansätzen ihre eigene Identität, um sie dann aufs Neue zusammenzusetzen. Die künstlerische Darstellung zählt zu den bisher ungewöhnlichsten Vorschlägen der rumänischen Theaterszene. Das gelungene Experiment verzeichnete äußerst positive Kritiken. Auch die Zuschauer waren begeistert.

 

POKER

2014 folgte Poker, eine Adaptierung zweier Romane von Bogdan Coşa. Damit verschreibt sich die Regisseurin Leta Popescu der zeitgenössischen Literatur und verfasst zeitgleich ihre Dissertation. Die Inszenierung Poker, ursprünglich für die Große Halle der Pinsel-Fabrik konzipiert, wurde für Reactor umgeschrieben und neu gestaltet.

 

Coşas Romane bestechen durch eine minimalistisch, fiktive Ästhetik und einen zugleich genau strukturierten und dynamischen Schreibstil. Die Hauptperson, ein Jugendlicher aus Kronstadt, der in einer von Krankheit, Trennung und Elend heimgesuchten Familie aufgewachsen ist, schafft es noch während der Pubertät durch sein Ausnahmetalent als Pokerspieler aus diesem prekären Zustand herauszukommen. Er gewinnt und verliert mehrere kleine Vermögen, ist nebenbei in gefährliche Situationen und in chaotische romantische Beziehungen verwickelt. Eine scharfe, sinnliche Gesellschaftssatire und Selbstverspottung, die sich im zweiten Roman in eine authentische Selbstreflexion verwandelt: Nach dem Tod seiner Geliebten verlässt der Held die berüchtigte Welt und beginnt seine langwierige Genesung.

 

Leta Popescu zeichnet sowohl für die Dramatisierung als auch für die Regie verantwortlich. Sie schafft einen „Glaubwürdigkeitsraum“ für die Erzählung, indem sie einen Mafioso, dessen Schützling beim Schummeln erwischt wird, erfindet. Nach einer Auseinandersetzung mit dem Romanhelden wird dieser in den Keller eines Nachtklubs, im Halbdunkeln, unter Aufsicht von Videokameras, eingesperrt. In Popescus Inszenierung wird die Hauptperson durch drei nahezu identisch gekleidete Schauspieler, aber mit drei widersprüchlichen Temperamenten, verkörpert. So wechseln Gefühlszustände wie Rebellion, Angst und Enttäuschung dementsprechend abrupt ab. Die Narration entfaltet sich sukzessive in Szenen von Liebesgeschichten, Abenteuer, Freundschaft und Verrat, Gewinn und Verfall. Die Dunkelheit, die Geräusche, die Aufnahmekameras bilden eine Art vierte bedrohliche, skrupellose Person, die das Schicksal oder der Mafioso-Entführer sein könnte.

 

Für den zweiten Teil der Inszenierung, der dem zweiten Roman entspricht, wechselt die Regisseurin den Stil: Die Lampen erlöschen und die Videokameras werden angehalten. Im hell beleuchteten Spielraum sprechen die Schauspieler, die noch immer die drei unterschiedlichen Facetten des Helden verkörpern, das Publikum oft direkt an. Dabei filmen sie sich gegenseitig. Am Gesichtsausdruck ihrer Projektionen sind die wechselnden psychischen Zustände gut erkennbar. Die schlechten Lebensgewohnheiten des Romanhelden (er wohnt in einem schmutzigen Zimmer und das bei einem „anständigen“ Gehalt von 1.200 Lei - Anm. der Übersetzerin: das sind ca. 267 Euro) führen letztendlich dazu, dass sich der nun 26 Jahre alte Held selbst die Schuld gibt.

 

9 von 10

9 von 10, eine ebenfalls 2014 von Leta Popescu realisierte Inszenierung weist Gegensätze und Ähnlichkeiten sowohl mit Poker als auch mit Parallel auf. Durch die Anwendung des devising Arbeitsprozesses beteiligte sich das gesamte Team an der Entstehung der Produktion. Die Dramatikerin Ana Cucu Popescu schrieb den Text Schritt für Schritt aus einer bereits bestehenden Textauswahl von Motivationsliteratur, Interviews und Improvisationen. Dazu bot die Regisseurin stilistische Lösungen an. Die Performance thematisiert das Konsumverhalten und die Heuchelei der Ratgeberindustrie, die Bücher wie auf dem Fließband produziert und vorschreibt „wie man erfolgreich sein soll“.

 

9 von 10, eine Koproduktion von Reactor und Reciproca weist folgende Ähnlichkeit mit Poker auf: Drei Schauspieler treten in eine Art Wettbewerb miteinander zu. Im ersten Teil fungieren sie als „Trainer“, indem sie auf Band aufgezeichnete Auszüge aus verschiedenen Motivationsbüchern vortragen. Ihre Auftritte zeichnen sich durch viel Humor und Fantasie aus. In Bezug auf Parallel wiederholt 9 von 10 dessen „Authentizität“. Die ästhetische Lösung ist jedoch eine andere: Die drei Schauspieler geben ihre größten Fehler preis und sprechen dabei direkt das Publikum an. Somit werden die Zuschauer aufgefordert, ihre eigenen Fehler zu erkennen und zu akzeptieren, und dadurch die genormten und fertigen Lösungen abzulehnen. 9 von 10 entpuppte sich als eine äußerst dynamische Performance, mit hoch motivierten Schauspielern, die am gesamten Arbeitsprozess teilnahmen und die Beteiligung des Publikums anspornten.

 

GHINGA

Mit Ghinga, der Dramatisierung einer Geschichte aus dem Band Unwiderstehlich von Dan Coman, deren Premiere 2015 in der Pinsel-Fabrik gefeiert wurde, setzt Leta Popescu das der zeitgenössischen rumänischen Prosa gewidmete Projekt fort. Auf der einen Seite war Ghinga ein Versuch, eine Koproduktion zwischen ColectivA, Reciproca und der Klausenburger Fakultät für Theater zu ermöglichen. Auf der anderen Seite war sie auch das Ergebnis einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit dreier Regisseurinnen: Neben Leta Popescu beteiligten sich Valentina Gabor und Andrada Lazăr an der Umsetzung der Inszenierung. Die Dramatiker Oana Hodade und Valeriu A. Cuc, die Bühnenbildnerin Brânduşa C. Bălan und der Komponist Răzvan Krivach schlossen sich dem Produktionsteam an.

 

Voller Witz, Ironie, zuweilen auch Sarkasmus schildert Comans Geschichte die traumatische Erfahrung eines Dichters während seines Besuches in der Schule eines Dorfes im Norden Rumäniens. Statt eines normalen einfachen Dialogs mit den Volksschülern wird er vorerst von den Gemeindevertretern (Bürgermeister, Pfarrer, Schulleiter, Lehrer, die den Besuch veranstalten) im übertriebenen Maße feierlich begrüßt. Alle sind bemüht, ihren großen Respekt vor der Kultur und deren Vertreter zu zeigen. Zuerst werden von mehreren Schülern Gedichte aus dem Band des Dichters vorgetragen, jedoch geschieht dies auf eine völlig unangemessene mechanische Weise. Als der Besucher anschließend zu einem üppigen Mahl eingeladen ist, wird er von der Schulleiterin fast vergewaltigt.

 

Die Handlung entfaltet sich in drei klar definierten und voneinander getrennten Teilen eines Raumes. Die Zuschauer sitzen links und rechts vom schmalen Streifen, der die Bühne ausmacht. Während sich am Eingang des Raumes „die Fahrt zum Dorf“ abspielt, befinden sich am anderen Ende des Zimmers eine Schultafel und ein langer Tisch, an dem das Mahl stattfinden wird.

 

Der Text kombiniert auf intelligente Weise Fragmente von Comans Geschichte und Improvisationen der Schauspieler. Dazu kommt noch eine Mischung aus Gedichten der gleichen Autorengeneration, die von zehn Kindern im Alter zwischen 7 und 13 Jahren live rezitiert werden. Die Handlung spielt sich in drei von den drei Regisseurinnen inszenierten Abschnitten ab: Für das Treffen mit dem Fahrer und die „Fahrt zum Dorf“ zeichnet Valentina Gabor verantwortlich, die Feier und die Vergewaltigung wurden von Andrada Lazăr inszeniert. Leta Popescu gebührt die Arbeit mit den Kindern.

 

Während Comans Geschichte eher dem Grotesken zuzuordnen ist, wurde diese mit humorvollen Impulsen szenisch umgesetzt. Der Versuch hatte ein zweifaches Ziel: Zum einen nahm sich die Inszenierung vor, die Wahrnehmung zeitgenössischer Kunst in einem rumänischen Dorf zu entlarven, zum anderen übt die Performance Kritik am mangelhaften rumänischen Bildungssystem, dessen Konzept auf Reproduktion basiert. Vor allem aber waren die Schauspieler mit Begeisterung und Talent als Ko-Autoren an einem Prozess der Zusammenarbeit beteiligt.

 

 

 

Fantasievoll, energiegeladen, großzügig, mit einer ungewöhnlichen Fähigkeit begabt, sich von kreativen Personen zu umgeben, so zeigt sich die Regisseurin Leta Popescu, die mit großer Wahrscheinlichkeit eine wichtige Rolle im rumänischen Theater spielen wird. Eine Theaterszene, die seit fast einem Jahrhundert von dominierenden „Star“-Regisseuren als Erzeuger von „Kunststücken“ geplagt ist. So ist Leta Popescu das beste Beispiel der Künstlerin, die von dieser Position abrückt, um zusammen mit ihren Teamkollegen Fragen aufzuwerfen und Lösungen für akute Probleme der Gegenwart und der Gemeinschaft zu finden.

 

aus dem Rumänischen von Irina Wolf

(Juli 2015)