(c) Adi Bulboaca
(c) Adi Bulboaca

Sinnstiftung und Entfremdung der Generationen

(3. Februar 2023)

 

Fünfzehn Personen auf der Bühne, eine Aufführungsdauer von drei Stunden, eine Live-Kamera, eine Spannung erzeugende Hintergrundmusik (Călin Ţopa) und ein ausgefeiltes Bühnenbild (Cosmin Florea): In der Inszenierung Exil von Alexandra Badea im Nationaltheater Bukarest wird nicht gekleckert, sondern anständig geklotzt. Die in Rumänien geborene Theater- und Filmregisseurin hat sich in den letzten zwanzig Jahren in Frankreich als eine der interessantesten Stimmen der jungen Dramatik etabliert. Die von Alexandra Badea in französischer Sprache verfassten Stücke wurden in mehrere Sprachen übersetzt und in Europa sowie in Brasilien, Argentinien, Kanada, den USA und Taiwan aufgeführt. Ihr Stück Zersplittert wurde 2013 mit dem „Grand Prix de Littérature Dramatique“ ausgezeichnet und am Théâtre National de Strasbourg uraufgeführt. 2015 zum Stückemarkt des Berliner Theatertreffens eingeladen, erlebte es im selben Jahr die deutschsprachige Erstaufführung am Schauspielhaus Graz. 2016 wurde ihr vom französischen Kulturministerium der Titel „Chevalier des Arts et des Lettres“ verliehen.

 

Exil ist aufs Ensemble des Nationaltheaters Bukarest zugeschnitten. Die Figur der Protagonistin Emma, die einen Dokumentarfilm über ihre Familie dreht, um ihre Identität besser zu verstehen, weist starke autobiografische Züge auf. Um sie herum hat die Autorin eine spannende Familiensaga erschaffen, die sich über 80 Jahre und vier Generationen erstreckt. Im Wesentlichen geht es um vier Frauen, die erfolglos darum kämpfen, an unterschiedlichen Orten „Wurzeln zu schlagen“. Hinter diesem kontinuierlichen Versuch, sich von der Vergangenheit zu lösen, scheint ein großes Trauma zu stehen, das die Urgroßmutter erlebte und geschickt verbarg: Als Jüdin hatte sie während des Zweiten Weltkriegs ihren Namen geändert, um der Abschiebung zu entgehen. Die Angst eines Lebens unter falscher Identität wird von Generation zu Generation unbewusst weitergegeben. Es ist ein Teufelskreis, der erst durchbrochen wird, nachdem die Urgroßmutter die Wahrheit enthüllt.

(c) Adi Bulboaca
(c) Adi Bulboaca

Badea schafft starke Charaktere, die sich ihren Ängsten stellen und in schwierigen Situationen bewähren. Obwohl die Perspektive mehrheitlich weiblich wahrgenommen wird, sind die männlichen Figuren gleichermaßen gut definiert. Auf der einen Seite ist Exil eine Geschichte über (psychische) Machtverhältnisse und Dominanz, auf der anderen über den Versuch, sich daraus zu befreien. Der Titel verweist auf eine Art inneres Exil, aus dem die Figuren zu fliehen versuchen. Ferner wird die Hassliebe der Charaktere zu ihrem Mutterland (Rumänien) und dem Adoptionsland (Frankreich) untersucht. Darüber hinaus werden Topthemen aufgegriffen wie das in Rumänien noch nicht aufgearbeitete kollektive Holocaust-Traumata oder der Klassenkonflikt, der während des Kommunismus entstand. Damals waren reiche Familien gezwungen, ihr Haus mit anderen zu teilen, was den Glauben eines Gewinners und eines Verlierers bekräftigte. Eine Denkweise, die bis heute anhält.

Die vielen Zeitsprünge lassen die Erzählung fragmentarisch und dadurch am Anfang wenig nachvollziehbar wirken. Doch versteht es die Regisseurin, Emotionen, Spannungsmomente und sehr schöne Bilder zu erzeugen. Gelungen ist ihr eine Montage von Haltungen und Handlungen, die äußerst kunstvoll mittels Überblendungen zwischen den Figuren und Zeiten springt. In einem Filmtheater, das teilweise auf einer Leinwand stattfindet. Voll von nüchternen, erschreckenden Fakten und emotional berührenden Situationen. Es braucht zwei Schauspieler:innen, um denselben Charakter in verschiedenen Altersstufen zu spielen. So stehen diese manchmal Seite an Seite auf der Bühne und der ältere betrachtet sein Ebenbild aus der Jugend. 

(c) Adi Bulboaca
(c) Adi Bulboaca

(c) Masiar Pasquali
(c) Masiar Pasquali

Eine weibliche Hamlet-Figur, charmant und mehrdeutig

 

Irina Wolf

(10.12.2022)

 

Es ist ein Versprechen, das ich mir selbst gegeben habe, als ich Hamlet zum ersten Mal inszenierte, nämlich diesen Klassiker alle zehn Jahre neu zu betrachten, um zu verstehen, wo ich stehe, nicht nur in Bezug auf Shakespeares Text, sondern auch auf meinen Beruf als Theaterregisseur.“ Mit diesen Gedanken ging Antonio Latella ans Werk, Hamlet zum dritten Mal in seiner Karriere auf die Bühne zu bringen. Der international bekannte italienische Regisseur wählt einen philologischen Ansatz und wagt es, das Stück in seiner vollen Länge zu inszenieren. Dabei wird er von einer originalgetreuen und zugleich modernen Übersetzung von Federico Bellini und der Dramaturgie von Linda Dalisi unterstützt. Das Ergebnis ist ein komplexes Werk, das es schafft, Shakespeares Geist wiederzugeben.

 

Schwarz und weiß

Nachdem die Aufführungen im Sommer 2021 aufgrund der Pandemie wenige Tage nach der Premiere unterbrochen werden mussten, wurde Latellas Hamlet vom 1. bis zum 30. Oktober 2022 in der Sala Melato des Piccolo Teatro in Mailand wieder gezeigt. Schon beim Betreten des kreisförmigen Saales wird klar, dass das Publikum auf Balkonen in verschiedenen Stockwerken 270 Grad um die Bühne herumgesetzt ist. So kann die Inszenierung aus allen Perspektiven gleich richtig betrachtet werden. Schauspieler nehmen die Zuschauer im Parkett wahr und wenden sich oft interaktiv an sie. Dies ist in der Tat typisch für das Shakespeare-Theater, in dem das Publikum als Vertreter der Bürgerschaft in einem Amphitheater-ähnlichen Raum positioniert ist und häufig mit den Schauspielern interagiert.

Eine Fülle von Regieeinfällen, mal ernst und nachdenklich und dann wieder völlig überraschend komisch, lässt die sechseinhalb Stunden wie im Fluge vergehen (die zwei Teile der Aufführung konnten entweder an zwei aufeinanderfolgenden Abenden oder als Gesamtvorstellung am Wochenende genossen werden). Das minimalistische Bühnenbild verweist auf ein mittelarmes Theater, dessen wahrer Reichtum die Stimmen und Körper der Schauspieler sind. Auf der fast nackten Bühne befindet sich im Vordergrund ein Betstuhl, auf den Hamlet kniend seinen vorgetäuschten Wahnsinn und seine Qual zeigt. Die dahinter platzierten Holzbänke erinnern an das Innere einer Kirche. Es ist ein heiliges Gegenteil zum religiösen Konformismus der Macht. Darüber hinaus gibt es wenige spektakuläre Effekte. Dabei ist der Einsatz von Farbe von zentraler Bedeutung. Die einzige Ausnahme ist die Szene, die Hamlets langem Monolog gewidmet ist, der über die Arbeit des Schauspielers spricht. Tatsächlich scheint Latella dieser Reflexion über das Theater viel Bedeutung beigemessen zu haben, vielleicht gerade um sein Engagement als Regisseur und seine Beteiligung an dem Text aus professioneller Sicht zu unterstreichen.

(c) Masiar Pasquali
(c) Masiar Pasquali

Auch die Kostüme setzen in ihrer nur scheinbaren „Ernsthaftigkeit“ ein starkes Zeichen. Sie sind nüchtern und modern. Hamlets Drama erscheint zeit- und raumlos. Schwarz und Weiß sind die dominierenden Farben: Trauer und Schuld scheinen neben Unschuld und Reinheit der Seele bestimmende Charakteristika von Shakespeares Meisterwerk zu sein. Damit erweist sich Latellas Hamlet als Allround-Show. Vor allem zum Anschauen, aber auch zum Fühlen und Wahrnehmen. Die Inszenierung ist um einen Zeremonienmeister und zugleich Interpreten von Horatio herum strukturiert. Er ist der Einzige, der einen blauen Anzug trägt. Alle anderen sind am Anfang in Weiß gekleidet und befinden sich gleichzeitig auf der Bühne, auch wenn sie nicht wirklich als Charaktere agieren. Einige von ihnen besetzen den von den Zuschauern frei gelassenen Teil des Parketts und betreten von dort aus die Bühne. „Wir wollten damit deutlich machen, dass wir alle Hamlet sind, ich meine die Hamlet-Figur“, sagt Latella. Die weißen Kostüme sind nicht nur der Widerruf eines Geistes, sondern auch für viele Schauspieler eine Nummer zu groß. „Die Erklärung liegt im 'Scheitern' eines Kostüms, das nicht getragen werden kann, also eines Textes, dem wir niemals nachkommen können“, begründet der Regisseur seine Wahl. Im zweiten Teil der Aufführung, nach dem Tod von Polonius, tragen alle schwarze Trauerkleidung mit hohem Kragen, Mieder und weitem Rock im elisabethanischen Stil.

(c) Masiar Pasquali
(c) Masiar Pasquali

Frauen- und Männerrollen

Die Inszenierung beruht auf dem intensiven körperlichen und emotionalen Einsatz der Schauspieler. Bereichert wird das Ganze um eine Huldigung von Giorgio Strehlers Theater, wie in der Szene, in der die Bühne mit den Kostümen des Piccolo-Archivs in einer kreisförmigen Anordnung gefüllt wird. Das wichtigste Merkmal der Inszenierung ist aber die Rollenvergabe. Während in der viktorianischen Ära sogar weibliche Charaktere Männern anvertraut wurden, werden hier einige männliche Figuren von Frauen gespielt.

Zunächst Hamlet, der von der jungen Schauspielerin Federica Rosellini verkörpert wird. Eine charmante und mehrdeutige Frau Hamlet, die es mit ihrer Energie und szenischen Stärke schafft, die Zuschauer in ein neues Universum zu entführen, jenseits aller Geschlechterstereotypen. Denn für Antonio Latella geht der Hamlet des 21. Jahrhunderts über Sexualität und über den Geschlechterunterschied zwischen Frauen und Männern hinaus. Nicht umsonst ist Rosellini Gewinnerin des Ubu-Preises 2021 für „Beste Schauspielerin unter 35 Jahren“. Federica Rosellini ist nicht die einzige spezielle Frauenfigur in dieser Inszenierung. Es gibt auch die hervorragende Anna Coppola, die sowohl den Geist von Hamlets Vater als auch den Totengräber-Clown darstellt. Der Geist wirkt respektlos spöttisch, denn die Schauspielerin ist von einem Laken bedeckt, auf das ein „Ghostbusters“-Gesicht gezeichnet ist; fast eine Blasphemie. Shakespeares Klassiker wird mit der Gegenwart in Einklang gebracht.

Auch durch die Mehrrolleninterpretation der Schauspieler wird die Komik der Inszenierung hervorgehoben. Dies ist der Fall bei Andrea Sorrentino, der sowohl Rosencrantz als auch Guildenstern verkörpert, ein Paar identischer Individuen; ein Element, das der Regisseur offenbar unterstreichen wollte, indem er die lächerliche Seite ihrem unvermeidlichen tragischen Ende gegenüberstellte. 

(c) Masiar Pasquali
(c) Masiar Pasquali

Wasser und Erde

Latella wählt den Tod des Polonius (entsprechend dem Ende des dritten Aktes) als Element der Zäsur, um die beiden Teile des Abends zu trennen. Die Wahl ist tatsächlich effektiv, denn im zweiten Teil erleben wir eine unglaubliche Rhythmussteigerung. Durch den stärkeren Einsatz von Musik und Mikrofon fügt der Regisseur viel mehr Pathos und Emotion in das Geschehen ein.

 

Was das Bühnenbild betrifft, so spielt eine Falltür in der Mitte der Bühne eine wirkungsvolle Rolle. Es ist ein von Hamlet enthülltes quadratisches Loch, das durch Heben jedes einzelnen Brettes freigegeben wird. Diese Grube nimmt unterschiedliche Funktionen ein: Zuerst ist es Aufführungsort für die Schauspieler, die Gonzagos Ermordung auf der Bühne darstellen. Danach wird das Loch mit Wasser gefüllt. Denn Latella entscheidet sich dafür, Ophelias Tod auf eine nüchterne und elegante Weise darzustellen: Die Schauspielerin springt in das Wasser und beginnt wie eine Tote zu treiben. Im letzten Akt ist die Grube jedoch mit Erde gefüllt: Es ist ein Friedhof, der Ort, an dem die Selbstmörderin begraben wurde, und Schauplatz der berühmten Totengräberszene. Wasser und Erde sind die charakteristischen Elemente der beiden letzten Akte der Tragödie.

(c) Masiar Pasquali
(c) Masiar Pasquali

Die Entscheidung, das Ende der Tragödie zu erzählen anstatt darzustellen, ist besonders wirkungsvoll. Der finale Dialog zwischen Hamlet und Horatio ist nur zu hören: Horatio rezitiert am Rednerpult die entsprechende Passage. Es sind die Geister, die in der Luft schweben, die uns an die Anwesenheit der Figuren erinnern; und die Magie des Theaters erlaubt es, sie darzustellen. Horatio erinnert sehr an einen Priester, der eine Messe feiert. Und die Szene ähnelt einer Beerdigung. Latella inszeniert eine letzte Salbung. Andererseits ist es auch Hamlets Massaker. So wandern die in Trauer gekleideten Figuren durch den Raum auf der Suche nach ihrer Bühnenidentität.

 

Dem Gesang (sowohl Hamlet als auch Ophelia singen Lieder) und der Musik wurde ebenfalls viel Gewicht beigemessen. Anfangs trägt Laertes Ophelias Musik in sich. Er sitzt am Klavier, kann aber nicht spielen: Er schlägt nur kurz auf die Tasten, die keine Töne erzeugen. Die Melodie wird erst explodieren, wenn die Schauspieler am Hof ankommen und den Wahnsinn mit sich bringen, der nicht nur Ophelia, sondern alle befällt. Während sich der Wahnsinn ausbreitet, fallen die Noten wie Regentropfen.

 

Antonio Latellas Hamlet – Gewinner des 2021 Ubu-Preises für „Beste Produktion“ – ist ein absolutes Theatererlebnis. Die höchst originelle, texttreue und zugleich erhellend-visionäre Neuinterpretation von Shakespeares Meisterwerk wird zu einer tiefgründigen kognitiven Erfahrung, an die man sich lange und gerne zurückerinnert.

 

(siehe auch www.aurora-magazin.at vom 20.01.2023)


Im roten Meer der Liebe, im Aurora-Magazin (15. Dezember 2022)


Macbett (c) Mihaela Marin
Macbett (c) Mihaela Marin

Relevante ästhetische Ansätze und Trends im rumänischen zeitgenössischen Theater

 

Irina Wolf

(21. November 2022)

 

In seiner 32. Ausgabe zeigte das Nationaltheaterfestival Bukarest (NTF) vom 5. bis 13. November die besten Produktionen der letzten Saison sowie mehrere aus dem Ausland eingeladene Performances. Das Kuratorenteam um Mihaela Michailov, Oana Cristea Grigorescu und Călin Ciobotari brachte frischen Wind in die Programmstruktur, sodass sich in den Hauptthemen ein innovativer Ansatz finden ließ. Die Sektion „Fragile Grenzen“ diente zur Beobachtung hybrider Ästhetiken und widmete sich Überschneidungen verschiedener Genres, Integration von Technologien, Hybridisierung ästhetischer Territorien sowie der Beschäftigung mit Künstlern einer dynamischen und mutigen Poetik. Hingegen umfasste die Sektion „Fließende Übergänge“ Veranstaltungen, die die Beziehung zur Vergangenheit neu beleuchteten und die Gegenwart in Frage stellten, kollektive und familiäre Geschichten aus subjektiven Blickwinkeln betrachteten und kontroverse Episoden der offiziellen Geschichte hinterfragten. Performative Installationen, Online- und Virtual-Reality-Kreationen erfolgten als Reaktion auf verschiedene Veränderungen der künstlerischen Sprachen während der Pandemie.

Das Bilderbuch für brave Kinder (c) Zsolt Barabas
Das Bilderbuch für brave Kinder (c) Zsolt Barabas

Mikro- und Makrogeschichten

Mit zwei Großproduktionen überzeugte das Ungarische Staatstheater Cluj in der Untersektion „Makrogeschichten. Fragmentierte Gesellschaften“. Dabei konnten die beiden Vorstellungen nicht unterschiedlicher sein. Tompa Gábors moderne Inszenierung von Hamlet (seine vierte von Shakespeares Stück in seiner Karriere als Regisseur) zeigte ein ausuferndes Angebot an Regieeinfällen. Als Spiegel unserer heutigen Welt ist Hamlet nicht nur ein Rebell, sondern ein stoischer Mensch, der in einer Bibliothek lebt. Kultur dient jedoch nicht mehr der Wiederherstellung der moralischen Ordnung. Aus der Neuinterpretation des Regisseurs gibt es scheinbar für keine Figur ein Entkommen. Die einst attraktiven Barkeeperinnen Rosencrantz und Guildenstern verwandeln sich später in Eliteschützinnen. Und am Ende wird Ophelia ermordet. Dagegen präsentierte sich Silviu Purcăretes klassische Inszenierung von Ionescos Macbett als hochkarätiges Theater. Das während des Kalten Krieges geschriebene Stück verwandelt Shakespeares „Macbeth“ in eine tragikomische Geschichte über Ehrgeiz, Korruption und Feigheit. Das insgesamt hervorragende Ensemble spielte vor einem begeisterten, ausverkauften Haus. 

Währenddessen wurden in „Mikrogeschichten“ persönliche Konflikte untersucht. In Florian Zellers Familiengeschichte Der Vater wird die Welt mit den Augen eines Demenzkranken betrachtet. Cristi Juncus Inszenierung war hochemotional, umso mehr, als sie dem 90-jährigen Hauptdarsteller Victor Rebengiuc in seiner letzten Rolle huldigte. Familienthemen fanden sich auch in anderen Produktionen wieder. Das Bilderbuch für brave Kinder, eine Adaption von Máté Hegymegi des Musicals von Phelim McDermott und Julian Crouch (basierend auf Geschichten von Heinrich Hoffmann und vertont von The Tiger Lillies) entpuppte sich als eine bissige und bitterböse Junk-Oper voll schwarzen Humors. Das Groteske erwies sich als ideale Formel, um die Klischees eines Bildungssystems, das nur Persönlichkeiten standardisiert und Kreativität unterdrückt, ad absurdum zu führen.

In der Kategorie „Fragile Grenzen. Hybride Bereiche“ machte sich Die Möwe bemerkbar. Eugen Jebeleanus Filmtheater-Interpretation von Tschechows Meisterwerk am Nationaltheater Bukarest untersucht einige Probleme der rumänischen Theaterszene und den Generationenkonflikt. Ein frischer Ansatz, der darauf abzielt, Stereotypen zu durchbrechen.

Waste! (c) Adi Bulboaca
Waste! (c) Adi Bulboaca

Rumänische Künstler in Europa

Einige der aufregendsten Aufführungen des Festivals lieferte die neue Generation angehender rumänischer Künstler. Wie nie zuvor inszenierten zahlreiche Regisseure in der letzten Saison im Ausland. Das ist der Fall bei Millennial History in der Regie von Catinca Drăgănescu (produziert von Resonate Productions Niederlande). Was als Podcast begann, für den Andrea Voets und der Komponist Luke Deane Hunderte von Musikstücken und Interviews kombinierten, wurde zu einem spannenden Live-Dokumentarkonzert, in dem mehrere Geschichten zu einer überzeugenden Einheit verschmelzen. Das musikalisch-filmische Konzept behandelt den Konflikt in Nordirland, die sizilianische Mafia, Ostdeutschlands Wandel nach der Wiedervereinigung und Ceaușescus berüchtigte „Kinder des Dekrets“.

Gianina Cărbunarius Waste! produziert am Schauspiel Stuttgart ist ein dokumentarisches Märchen, in dem sich Realität und Fiktion ständig vermischen. Basierend auf der echten Geschichte eines rumänischen Dorfes, in dem der aus dem Westen nach Osteuropa ausgelagerte Müll in Zementfabriken verbrannt wird, verknüpft Cărbunariu Menschen mit Fischen, Bären und Pfauen, um zu zeigen, dass die europäische Solidarität angesichts der wirtschaftlichen Ungleichheiten schwer vertretbar ist. Die Ausbeutung durch das kapitalistische System wurde auch von der aus der Republik Moldau stammenden Nicoleta Esinencu und ihrem Kollektiv „teatru spalatorie“ in Sinfonie des Fortschritts dem Publikum schmerzlich vor Augen geführt. Ein Sprachkonzert, das die westeuropäische Selbstgewissheit, eine demokratische und fortschrittliche Gesellschaft zu sein, auf bissig-humorvolle Weise demontiert. Drei Performer, ausgestattet mit Bohrmaschinen, Straßenbauarbeiter-Klamotten, einem Mischpult und Mikrofonen, erzählten – konsequenterweise in moldawisch-rumänischer und russischer Sprache – die Geschichten von Saison- und Wanderarbeitern. Die Produktion des Hebbel-am-Ufer-Theaters wurde zum diesjährigen Berliner Theatertreffen nominiert. Nicht zuletzt soll hier ein weiteres Gastspiel Erwähnung finden. Für Der blinde Fleck, produziert vom Serbischen Nationaltheater in Novi Sad, schrieben die Autoren Ionuț Sociu und Cosmin Stănilă die Geschichte der Antigone in eine Seifenoper um, die während der Pandemie spielt. Regie führte Andrei Măjeri.

Leg auf, Anrufe warten (c) Adi Bulboaca
Leg auf, Anrufe warten (c) Adi Bulboaca

Doch auch Produktionen aus Rumänien überraschten durch mutige Themenwahl und starke Bühnenumsetzung. Geschrieben von Alexandra Felseghi und inszeniert von Adina Lazăr ist Leg auf, Anrufe warten (eine Produktion des Nationaltheaters Cluj) eine Anklage gegen den rumänischen Staat und seine Unfähigkeit, Frauen zu schützen. Der Titel erlangte eine finstere Berühmtheit: Er steht für den Satz, mit dem ein Polizist die entführte Teenagerin Alexandra Măceșanu 2019 von der europäischen Notrufnummer 112 abwies, bevor sie ermordet aufgefunden wurde. Bekannt für ihr Interesse an der Aufarbeitung der Geschichte zeigte Carmen Lidia Vidu im Dokumentartheater Menschen. Zu verkaufen (eine Produktion des Deutschen Staatstheaters Temeswar) auf, wie das kommunistische Rumänien seine deutsche Minderheit – insbesondere in den Jahren von 1969 bis 1989 – der Bundesrepublik Deutschland verkaufte.

 

Neben Theater bot das NTF auch Tanzproduktionen. Hinzu kam ein abwechslungsreiches Rahmenprogramm bestehend aus szenischen Lesungen, Debatten, Ausstellungseröffnungen und eine Theaterbuchmesse, auf der nicht weniger als 23 Neuerscheinungen vorgestellt und Begegnungen mit ihren Autoren möglich wurden. Zum ersten Mal widmete das NTF der Präsenz der darstellenden Künste in Schulen und Gymnasien besondere Aufmerksamkeit, einschließlich Workshops und Treffen für Studenten von Universitäten und Kunstschulen.

Zum Abschluss gab es eine zweite Inszenierung von Silviu Purcărete. Die Cenci Familie ist ein poetisches Stück nach P.B. Shelley und Stendhal, das Artauds Theorie mit der Grausamkeit des Grafen Francesco Cenci gegenüber seiner Familie und insbesondere seiner Tochter Beatrice, verbindet. Die Produktion des Nationaltheaters Iași entpuppte sich als ästhetisches „Markenzeichen“ von Purcărete. Ein prächtiger Abschluss des Festivals!

 

(siehe auch www.aurora-magazin.at vom 25.11.2022)


(c) Irina Wolf
(c) Irina Wolf

Bunter Theaterreigen.

Eindrücke vom Internationalen Theaterfestival für junges Publikum, das in Iaşi ein „Abenteuer der Rezeption unterschiedlichster Kunstformen“ beschwor

 

Irina Wolf

(22. Oktober 2022)

 

Er murmelt, grummelt und stampft durch die Gegend. Gibt er manchmal furchterregende Töne von sich, kann er jedoch rasch durch Streicheln oder Küsschen gebändigt werden. Er frisst alles, was ihm zwischen die Zähne kommt, von Tannenzapfen bis zur Plastikflasche. Und kaum hat er einen Schluck getrunken, rülpst er laut. Onil der Drache und seine Dompteurin Oni vom Theater Oniversum in Freiburg sorgten beim Internationalen Theaterfestival für junges Publikum in Iaşi (FITPTI) für Staunen und Gelächter. Ob im Park oder im Einkaufszentrum, das grün-orange Ungeheuer und seine rotgekleidete Bändigerin lockten Scharen von Zuschauern an. Kinder und Erwachsene zugleich ließen sich gern zum Füttern animieren. Irgendwann mussten diese auch ganz fest die Daumen drücken, damit Onil ein Ei legen konnte. Doch der Versuch schlug fehl, wenn nur ein einziger Beteiligter sich zu schummeln traute. 

Die Rückkehr nach Hause (c) Ami Vitega
Die Rückkehr nach Hause (c) Ami Vitega

Konfrontation, Krise, Krieg

Mit solch genial-verschrobenen Kunststücken lud die 15. Auflage des Festivals vom 1. bis 9. Oktober in der nordöstlichen Stadt Rumäniens zur Zusammenkunft ein. Unter dem Motto „Konflikt-Konfrontation“ startete Kuratorin Oltiţa Cîntec ein „Abenteuer der Rezeption unterschiedlichster Kunstformen“. Das vielfältige Programm umfasste Schauspiel- und Straßentheater, Tanz, Performances, Clown-Shows, Virtual-Reality- und Radiotheater, Shows auf TikTok, Konzerte, Filme und Installationen. Ein dichtes Rahmenprogramm von Ausstellungen und Workshops über Konferenzen und Buchpräsentationen bis hin zu Debatten rundeten das abwechslungsreiche Angebot ab. „Das Motto hat sich gewissermaßen aufgedrängt“, sagt Cîntec, Theaterkritikerin und künstlerische Leiterin des gastgebenden Kinder- und Jugendtheaters „Luceafărul“. Denn die Pandemie sowie die Klima- und Energiekrise, vor allem aber der Krieg in der Ukraine „haben unsere Gedanken eindringlicher auf 'Schlachten', die wir täglich schlagen müssen, gelenkt“.

Kein Wunder also, dass sich im Programm Titel wie Maidan Inferno, oder Die andere Seite der Hölle von der ukrainischen Autorin Neda Nejdana – eine Koproduktion zwischen dem Akademischen Schauspiel- und Komödientheater aus Dnipro (Ukraine) und der Gruppe Collapse aus Lyon (Frankreich) – oder Die Rückkehr nach Hause von Matei Vişniec wiederfinden. Das vor über zwei Jahrzehnten publizierte Stück des in Frankreich lebenden rumänischen Dramatikers behandelt auf symbolische Weise ein äußerst aktuelles Thema: die Rückkehr der Toten vom Schlachtfeld in die Heimat. Regisseur Botond Nagy arbeitete mit einem Team von sieben sehr jungen Schauspielern des 2016 in Suceava gegründeten Stadttheaters „Matei Vişniec“ zusammen. Es entstand eine intensive, moderne Inszenierung, die durch Russlands Krieg in der Ukraine an künstlerischer Bedeutung gewinnt. Ohne den Originaltext zu verändern, setzt der Theatermacher mit viel Fingerspitzengefühl besondere Akzente. Die Inszenierung wechselt ständig zwischen grotesk-komischen und tragisch-realistischen Szenen, und unterstreicht somit die Intensität des Themas: Ein General organisiert seine Truppen, bestehend aus toten Soldaten für die Rückkehr in die Heimat. Keiner hat diesen anonymen Krieg gewonnen, keiner hat ihn verloren. Die Ausgezeichneten bestehen darauf, die Ersten zu sein, die an den Sieg Glaubenden wollen ihren Optimismus gewürdigt wissen, die Verräter fühlen sich den Deserteuren überlegen usw. Das vielsagende Bühnenbild schtellt ein Grab vor. Von hoch oben (darüber heraus) wirft der Gehilfe des Generals Schaufeln voll Erde auf die streitenden Toten in der Grube. Diese akribisch gestaltete Atmosphäre erzeugt einen andauernden Zustand zwischen Sein und Nichtsein.

Ein verlorener Brief im Konzert (c) Nicu Cherciu
Ein verlorener Brief im Konzert (c) Nicu Cherciu

Roma-Theater und musikalische Adaptionen literarischer Klassiker

Neben solch globalen Konfrontationen wurden auf der Bühne auch persönliche Konflikte ausgetragen. Das beste Kind der Welt heißt die autobiografische One-Woman-Show der Roma-Künstlerin Alina Șerban. Erzählt wird darin die Geschichte eines Roma-Mädchens, dessen Jugend von Armut geprägt ist und das trotzdem die Kraft findet, sich dem Schicksal zu widersetzen. Geleitet vom Versprechen ihrer Mutter, „das beste Kind der Welt“ zu sein, erobert die junge Frau die Welt und verfolgt ihren Traum, an den besten Schulen zu studieren. In dem Stück geht es um die Kraft, das Unmögliche zu erreichen, um mit der Vergangenheit und der eigenen Identität Frieden zu schließen und die mit den Roma verbundenen Stereotypen durch Menschlichkeit und Einfühlungsvermögen zu dekonstruieren. Mit Das beste Kind der Welt, ein Projektdas Alina Șerban aNationaltheater I.L. Caragiale in Bukarest – der wichtigsten Bühne des Landes – entwickeln durfte, möchte die Künstlerin Brücken bauen: „Mein Ziel war es immer, mir selbst und anderen Heilung zu bieten und wenn möglich, durch meine Kunst eine Veränderung zum Besseren zu bewirken“.

Der verlorene Brief im Konzert, eine musikalische Adaption von Ada Milea des gleichnamigen Lustspiels von Ion Luca Caragiale, stellt mit Sicherheit einen der Höhepunkte des Festivals dar. Anlässlich des Jubiläumsjahrs des berühmtesten rumänischen Dramatikers  gefeiert wird in diesem Jahr der 170. Geburtstag  analysiert die Produktion des Nationaltheaters „Lucian Blaga“ aus Klausenburg mit viel schwarzem Humor und den mittlerweile bekannten ironisch-persiflierten Liedern der gefragtesten Theatermusikerin des Landes die klassischen Charaktere der rumänischen politischen Klasse, die so aktuell sind wie eh und je. Die ewigen Parteiinteressen, die immerwährende Korruption, der hohle Patriotismus, die Naivität der Wähler bilden ein außergewöhnlich komisches Panorama einer Gesellschaft, die seit dem 19. Jahrhundert fortbesteht.

497 (c) Taban Tancegyüttes
497 (c) Taban Tancegyüttes

497 Paar Opanken und der Koffer mit dem grünen Herz

Zu den absoluten Neuheiten zählten eine für Menschen mit Behinderungen zugänglich gemachte Show (Schließe die Augen und du wirst besser sehen vom Persönlichkeitsentwicklungsverein „Grigore Popa“ aus Bukarest) sowie eine den Universitäten gewidmete Sektion, in der Theateruniversitäten aus Iaşi, Temeswar und Chişinău (Republik Moldau) ihre Projekte vorstellen durften. Auch das Gasttheater begeisterte das Publikum mit seinen Eigenproduktionen, unter anderem mit der Premiere Der selbstsüchtige Riese nach Oscar Wilde und Clown-Station, eine clowneske Darbietung, die am Edinburgh Fringe Festival 2022 gezeigt wurde.

Tanzliebhaber kamen ebenfalls nicht zu kurz. Ein unvergessliches Erlebnis war 497, eine Koproduktion des Ensembles „Tabán Táncegyüttes“ Békéscsaba (Ungarn) und der Theatergruppe „Aradi Kamaraszínház“ Arad (Rumänien). Der Legende zufolge nahmen vier Musiker und Tänzer aus Buzău am vom Touring Club de France ins Leben gerufenen Weltwanderwettbewerb teil. Die Reisenden tanzten rumänische Volkstänze, spielten Musikinstrumente, trugen rumänische Trachten und benutzten 497 Paar Opanken. Die 1910 begonnene Reise dauerte mehr als zehn Jahre. Notizen, Skizzen und Tagebuchauszüge wurden verwendet, um einen Einblick in diese herausfordernde Weltreise zu gewinnen. Die tanzenden Wanderer waren in Gefangenschaft, nahmen an einem Präsidentenempfang teil, hatten einen Unfall, vergnügten sich aber auch im Palast eines indischen Maharadschas. All diese Erlebnisse werden von vier barfüßigen Tänzern mit großer Präzision dargeboten. Dabei spielen Farben (buchstäblich) eine bedeutende Rolle.

SeedHeart (c) Indigo Moon Theatre
SeedHeart (c) Indigo Moon Theatre

Zu meinen persönlichen Highlights zählt SeedHeart (ein Herz säen), die neueste Show des Indigo Moon Theaters aus Großbritannien. Erzählt wird die Geschichte des zerstörenden Einflusses des Menschen auf seine Umwelt. Gleichzeitig wird hinterfragt, was wir tun können, um unseren einst grünen Planeten wiederherzustellen. Die Reise beginnt, als die menschenähnliche Puppe namens Grau in einem Glas gefangen ist. Puppenspielerin Anna Ingleby schafft es, mit viel Gefühl und Leichtigkeit eine breite Palette an Emotionen zu wecken. Die Geschichte entfaltet sich (buchstäblich) aus einem einzigen Koffer und folgt Graus Reise in eine bessere Zukunft mit magischen Pop-ups, Schattenspiel und interaktiven Szenen. Musik, Theater und Komposition verschmelzen zu einem Spiel mit Rollenbildern: feinsinnig, nachdenklich und humorvoll wie ein farbiger Traum.

 

Fazit: Mit offenen Herzen und neugierigen Blicken wurden die zahlreichen auswärtigen Theatergäste aus 17 Ländern, unter anderem aus Mexiko, Italien, Ägypten, Spanien, Belgien, aber auch die heimischen, diesmal ganz speziell die Gruppen der rumänischen Freien Szene wie das Basca- und das Auăleu-Theater (beide aus Temeswar), das „Kreations- und Experimentreaktor“ aus Klausenburg, das „Replika-Zentrum für Bildungstheater“ aus Bukarest empfangen. Immer auf der Suche nach neuen Aufführungsorten wurden diesmal an die 20 Spielstätten bespielt. Volle Theatersäle und strahlende Kinderaugen, ausverkaufte Veranstaltungen und tosender Applaus. Die diesjährige Ausgabe des Internationalen Theaterfestivals für junges Publikum in Iaşi erfreute sich einer überwältigenden Resonanz.

 

(siehe auch www.aurora-magazin.at vom 02.11.2022)


Die Liebe, die kreisen macht Sonne und Sterne, im Aurora-Magazin (24. August 2022)

 


Im Labyrinth unserer eigenen Verbundbarkeit, im Aurora-Magazin (24. Juli 2022)


Ukraine: Theater in Kriegszeiten, im Aurora-Magazin (14. Juli 2022)


(c) Magali Dougados
(c) Magali Dougados

Nur eine dünne Linie trennt das Mögliche vom Unmöglichen

Irina Wolf

(13. März 2022)

 

Als ich am 19. Februar in Udine eintraf, um eine Theateraufführung über die Arbeit von humanitären Organisationen zu besuchen, dachte ich nicht, dass diese nur eine Woche später von großer Aktualität sein würde. Dass Vertreter von Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen oder das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) romantische Charaktere sind oder Helden, die tatsächlich eine Veränderung in der Welt bewirken können, das dachte sich Tiago Rodrigues, bevor er die Arbeit an Im Rahmen des Unmöglichen („Dans la mesure de l'impossible“) begann.

Schon vor fünf Jahren hegte der portugiesische Regisseur, seit 2014 künstlerischer Leiter des Nationaltheaters Lissabon und künftiger Direktor des Festivals d'Avignon, „den Wunsch und die Neugier, die Erfahrungen derjenigen zu kennen, die im Bereich der humanitären Hilfe arbeiten“. Rodrigues wollte aber keinen Bericht über das Phänomen der humanitären Vereinigungen erstellen, sondern vielmehr „die Geschichten, die uns alle berühren und die Art und Weise, wie wir über Leid, Gewalt und Katastrophen denken“, auf die Bühne bringen.

Für die auf Interviews basierende Produktion war geplant, dass der Regisseur und sein Team hilfeleistenden Menschen auf IKRK-Missionen folgen sollten. Doch die Pandemie machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. So mussten sie sich begnügen, in Genf mit Männern und Frauen zusammenzukommen, die humanitäre Arbeit zu ihrem Beruf gemacht haben. Somit spiegelt sich das Dilemma der humanitären Helfer, die zwischen sensiblen, sogar stark umkämpften Interventionsgebieten und dem „friedlichen Zuhause“ hin und her pendeln in Im Rahmen des Unmöglichen wider, eine Produktion von Comédie de Genève in Koproduktion mit zahlreichen namhaften Theatern und Festivals, unter anderem Odéon – Théâtre de l’Europe – Paris, Piccolo Teatro di Milano – Teatro d’Europa, CSS Teatro stabile di innovazione del FVG – Udine, Festival d’Automne à Paris, Maillon Théâtre de Strasbourg – Scène européenne.

 

Vier Schauspieler:Innen, Adrien Barazzone, Beatriz Brás, Baptiste Coustenoble und Natacha Koutchoumov (seit 2017 gemeinsam mit Denis Maillefer Ko-Direktorin der Comédie de Genève) sowie der Musiker und Komponist Gabriel Ferrandini bilden die Besetzung von Rodrigues Inszenierung. Doch die Pandemie schlägt noch einmal zu und auf der Bühne des Teatro Palamostre in Udine treten nur vier Künstler auf nachdem Beatriz Brás auf Corona positiv getestet wurde. Daher erleidet die Aufführung am 19. Februar ein paar kleine Änderungen, wie uns Natacha Koutchoumov schon vor Beginn der Vorstellung ankündigt: Eine Szene fehlt, eine andere wird vom Tonband wiedergegeben.

Auf Französisch und Englisch, teilweise auf Italienisch und Portugiesisch, übermitteln die nur mehr drei Schauspieler:Innen die Geschichten der in Genf interviewten Helfer. Es sind unterschiedliche Erfahrungen, die bezeugen, wie diese Menschen die Welt und sich selbst wahrnehmen. Doch anstatt die Komplexität der Erfahrungen zu interpretieren, entschied sich Rodrigues, die Charaktere der Helfer selbst auf die Bühne zu bringen. Starke Bilder entstehen in den Köpfen der Zuschauer. Gebannt hört man den Schauspieler:Innen zu, die das Publikum direkt ansprechen. Man ist völlig eingenommen von dem, was man hört.

Im schnellen Tempo wechseln sich beklemmende Erzählungen über nicht ausreichende Blutkonserven für Kinder, die diese Blutkonserven benötigen, mit schaurigen Geschichten über Feuerpausen und Fluchtkorridore ab. Am abscheulichsten fand ich die Lektüre eines Briefes über einen pädophilen Helfer, der Kinder aus beschossenen Gebieten für seine sexuellen Triebe ausnützte und feine Pastete als Katzenfutter in Interventionsgebieten einsetzte. Es sind Erzählungen über Leid und Gewalt, aber auch über Hoffnung und Freude, die die humanitären Helfer während ihrer Missionen erlebt haben, ebenso viele Versionen, wie es Menschen gibt. Saubere weiße Laken, in denen Leichen eingewickelt werden, sind ein Symbol der Würde.

An Symbolen fehlt es nicht. Das beginnt schon beim Bühnenbild, einer Konstruktion von Zelten-Bergen-Dünen, die von Kabeln gehalten und wie die Segel von Booten von den Schauspielern bewegt wird; möglich gemacht durch ein System von Flaschenzügen, die sich auf beiden Seiten der Bühne befinden. Dadurch entstehen beeindruckende abstrakte Landschaften. Allmählich wird die Konstruktion gehoben und enthüllt den Schlagzeuger Gabriel Ferrandini. Mit seiner Live-Musik, die von sanften Geräuschen bis zu einem Stakkato von Schüssen reicht, fesselt er die Zuschauer.

Tiago Rodrigues bestätigt sich mit seiner neuesten Arbeit als Autor eines poetischen und subversiven Theaters. Der Geniestreich liegt jedoch darin, dass die Regionen der Welt, in denen die Helfer agieren, nie genannt werden. Stattdessen sind sie unter einem einzigen Begriff zusammengeführt: „das Unmögliche“. Während hilfeleistende Menschen Schmerz und Leid in den „Regionen des Unmöglichen“ erleben, wandern ihre Gedanken des Öfteren zu den in den Gebieten des „Möglichen“ zurückgelassenen Familien. Allein „das Gesicht einer Mutter ist im Bereich des Möglichen dasselbe wie im Bereich des Unmöglichen“, wird in der Produktion angedeutet.

 

Im Rahmen des Unmöglichen ist aber kein dokumentarisches Theater. Tiago Rodrigues besteht darauf, dass er dokumentiertes Theater macht, ohne den Anspruch zu erheben, ein generelles Essay über die Problematik der humanitären Erfahrung produziert zu haben. Die Nähe von Leid, Gefahr und Gewalt, aber auch von Menschenwürde und Resilienz, verschafft uns durch diese Produktion Zugang zu einer anderen Art, die Welt zu erleben. Obwohl der Wunsch nach Veränderung Teil der Hauptmotivation der Helfer war, den humanitären Weg einzuschlagen, sind sie sich letztendlich bewusst, dass sie die Welt nicht verändern können. „Allein die Tatsache, dass humanitäre Aktivitäten existieren, ja sogar zunehmend andauern, zeichnet ein tragisches Bild der Menschheit" – mit diesen Worten schließt Tiago Rodrigues seine Arbeit ab. Die Realität hat uns inzwischen alle eingeholt.

 

(siehe auch Aurora-Magazin.at vom 26.05.2022)


Herz- und andere Fleischgerichte (c) TNC
Herz- und andere Fleischgerichte (c) TNC

Zwischen Beständigkeit und Neuschöpfung

 Irina Wolf

 (21. November 2021)

 

 Vielfalt, Kreativität, Innovationskraft. Das spiegelt sich in den aktuellen Performance- und Theaterproduktionen, die beim rumänischen Nationaltheaterfestival zu sehen waren. Pandemiebedingt mussten die Festspiele zum zweiten Mal in Folge ins Internet ausweichen und zeigten 38 bemerkenswerte Inszenierungen. Der Zugang zu allen Streams war kostenlos, die meisten Aufzeichnungen für 48 Stunden mit englischen Untertiteln verfügbar.

 Für das Konzept „Kreation. Entspannung. Neuschöpfungˮ (Creation. Recreation. Re-Creation) zeichneten die Theaterkritiker Oana Cristea Grigorescu, Cristina Rusiecki und Claudiu Groza verantwortlich. „Dieser Strukturvorschlag spiegelt am besten den Status quo der rumänischen Theaterszene widerˮ, meint Claudiu Groza. Das Kreationsmodul deckte den Bereich der Originalproduktionen ab, die die verschiedenen ästhetischen Formen und ideologischen Standpunkte der Szene fortführen. Unternahm die Entspannungskomponente einen Versuch, eine aktuelle Aufnahme der Welt in parodistisch-komischen Zügen zu skizzieren, zeigte das Neuschöpfungsmodul die von den Künstlern unterbreiteten Vorschläge zur Überwindung der Lockdowns. Eine eigene Komponente wies auf moderne Klassiker-Inszenierungen hin. Ein besonderer Schwerpunkt lag auf dem Schaffen der Regisseurinnen. Traditionsgemäß gehörten zum Programm auch einige Tanz- und ausländische Produktionen.

Herz- und andere Fleischgerichte (c) TNC
Herz- und andere Fleischgerichte (c) TNC

 Die Magie des Radu-Afrim-Universums

  Den Auftakt machte Herz- und andere Fleischgerichte (Gewinner des UNITER-Preises 2021 in der Kategorie „Beste Aufführungˮ). Wie in einem Puzzle kommen Annäherungsversuche, Liebkosungen und Ablehnungen zwischen verschiedenen Personen zu einer fesselnden Inszenierung zusammen. Die auf den Texten des Schriftstellers Dan Coman basierende Produktion des Nationaltheaters aus Craiova ist ein mutiger Ansatz zur Beleuchtung der emotionalen und sozialen Nebenwirkungen der aktuellen Gesundheitskrise. Radu Afrims atemberaubendes Inszenierungskonzept ist am Puls unseres hektischen Zeitgeschehens. Ergänzt wird die unterhaltsame und zugleich poetische Aufführung durch eine fulminant musikalische Untermalung. Und über allem schwebt ein riesiger Schmetterling als Symbol des gesamten Diskurs.

  Der arrivierte Regisseur, bekannt für seine leuchtend-surrealen Inszenierungen, war mit einer weiteren Produktion im Programm vertreten. Die Frau und ihr Körper sind die Leitmotive in der Stadt mit armen Mädchen, die Afrim ausgehend von Radu Tudorans Kurzgeschichten kreierte. Prostitution ist nur ein Vorwand für eine lyrische Reise durch die Prosa des rumänischen Schriftstellers. Volkslieder und Live-Klavier-Akkorde erzeugen zusätzliche Emotionen. Im Allgemeinen üben Musik und Choreografie einen magischen Sog aus.

Tiadora (c) Ovidiu Ungureanu
Tiadora (c) Ovidiu Ungureanu

Frauenseele und -körper im Fokus

   Über den Zustand der Frau spricht auch Cassandra, eine Produktion des unabhängigen Theaters Apollo111 in Bukarest. Auf humorvoll-ironische Weise untersucht das Stück des Kanadier-Duos Norah Sadava und Amu Nostbakken (Originaltitel „Mouthpieceˮ) die Dualität des Frauengehirns und die Mutter-Tochter-Beziehung. Leta Popescus Inszenierung überzeugt durch eine körperlich herausfordernde Choreografie. Zum Erfolg der Aufführung tragen auch die zwei hervorragenden Schauspielerinnen und nicht zuletzt ein bemerkenswertes Bühnenbild bei.

 Im Allgemeinen behandelten zahlreiche Produktionen unterschiedliche Frauenaspekte: Misshandlung, Schwangerschaft bei Minderjährigen oder die Art, wie sich der gesellschaftliche Druck auf Frauen auswirkt. Auffallend waren dabei die von jungen rumänischen Dramatikerinnen verfassten, inhaltlich sehr guten Texte. Tiadora von Maria Manolescu Borșa (preisgekrönter Text des Bacău Monodrama Wettbewerbs 2019) blickt auf das Leben einer misshandelten Frau zurück, während sie sich aus dem achten Stockwerk ihrer Wohnung stürzt. Demütigungszustände, Schuld, Scham, Angst, Revolte bilden ein emotionales Ineinander. Es sind acht ungewöhnliche Geschichten, je eine für jedes Stockwerk, für die die Erzählerin ihren Freifall unterbricht. Sorin Militarus Inszenierung hebt die Schauspielerin Eliza Noemi Judeu hervor (für ihre Leistung für den UNITER-Preis 2021 nominiert) und beeindruckt zugleich durch die begleitende Live-Musik und den heiteren Animationsfilm. Eine One-Woman-Show ist auch Komm, lass uns über das Leben reden! Ana Sorina Corneanus Stück (Gewinner des UNITER-Preises 2019) ist ein Monolog über die existenziellen Fragen einer jungen Tänzerin, die sich weigert, sich dem Leben ihrer Freundinnen anzupassen. Zum einen ist da die großartige schauspielerische Leistung von Florentina Ţilea, zum anderen die raffinierte Inszenierung von Zsuzsánna Kovács, die vor allem durch Schattenspiele, Musik und Choreografie besticht.

Zu 98% die richtige Entscheidung (c) Marius Sumlea
Zu 98% die richtige Entscheidung (c) Marius Sumlea

Zu 98% die richtige Entscheidung stellt das Dilemma eines 17-jährigen schwangeren Mädchens in den Vordergrund. Andreea Tănases Stück beleuchtet die Reaktionen der Menschen aus dem Familien- und Freundeskreis. Verzweiflung, Gleichgültigkeit, Verwunderung oder Verachtung werden wie in einem Gefühlskarussell zum Ausdruck gebracht. Regisseurin Elena Morar gelingt eine spannende Inszenierung dieses wichtigen Themas, denn Rumänien nimmt einen Spitzenplatz ein in der jährlichen Statistik der Europäischen Union über die Anzahl der Schwangerschaften bei Minderjährigen. Die kurze, aber heftige Debatte über diese Produktion des Jugendtheaters in Piatra Neamț, der sowohl von der Politik als auch von der Kirche Pornografie vorgeworfen wurde, zeugt von der Relevanz des Themas.

All die Dinge die Alois mir weggenommen hat (c) Bogdan Botas
All die Dinge die Alois mir weggenommen hat (c) Bogdan Botas

Mit All die Dinge, die Alois mir weggenommen hat gibt Cosmin Stănilă, ein junger Schauspieler am Nationaltheater Klausenburg, sein Dramatikerdebüt. Sein Stück verfolgt einerseits den zunehmend schmerzhaften Verlauf der Alzheimer-Krankheit bei einer großen Schauspielerin. Andererseits wird die Mutter-Sohn-Beziehung untersucht: Der junge Mann opfert Karriere und Privatleben, um seine leidende Mutter zu beschützen und zu betreuen. In der Rolle der Mutter glänzt Emöke Kató, Gewinnerin des UNITER-Preises 2021 für „Beste Schauspielerinˮ. Für die szenische Umsetzung zeichnet Andrei Mǎjeri verantwortlich.

Katzelmacher (c) Sabina Reus
Katzelmacher (c) Sabina Reus

Die junge männliche Regiegeneration

    Neben einem „Gastspielˮ-Modul, gewidmet Regiestars wie Silviu Purcǎrete, Gábor Tompa oder Alexandru Dabija, zeigte das Festival hauptsächlich Werke von Regisseuren unter vierzig und beinhaltete sogar einige Regiedebüts. Eine starke Herangehensweise an Rainer Werner Fassbinders Katzelmacher. Wenn das mit der Liebe nicht wär liefert Regisseur Eugen Jebeleanu. Film und Theater fließen ineinander in der Auslotung des Fremdenhasses und der schlechten Lebensbedingungen der rumänischen Erntehelfer in Deutschland. Bewundernswert ist die Leistung des sehr jungen Schauspielers Niko Becker, einem Neuzugang des Deutschen Staatstheaters in Temeswar, in der äußerst anspruchsvollen Hauptrolle. Becker ist auch Protagonist der Produktion Après Ski. In dem von ihm selbst entwickelten Konzept nach einem Text von Klaus Eckel spielt Becker einen durchschnittlichen Mann, der zum jährlichen Ärztekongress in ein Skigebiet fährt. Als er eine Minute nach der letzten offiziellen Bergfahrt in einem Sessellift festsitzt und die Nacht darin verbringen muss, ändert sich seine Lebenseinstellung.

Nebenwirkungen (c) Vlad Catana
Nebenwirkungen (c) Vlad Catana

Die größte Sensation lieferte Nebenwirkungen, das Regiedebüt des Schauspielers Vlad Bălan. Beleuchtet wird die Pharmaindustrie, denn die Protagonisten des Stücks der Britin Lucy Prebble (Originaltitel „Wirkungskraftˮ) sind zwei junge Menschen, die ihre Körper einem großen Pharmakonzern anbieten, das Experimente für ein neues Antidepressivum durchführt. Zwar kommen die beiden jungen Testpersonen freiwillig und gegen Bezahlung in den für das Experiment vorgesehenen Raum, aber die räumliche Umgebung schaut einer psychiatrischen Anstalt ähnlich. Vlad Bălans Inszenierung zieht das Publikum in einen Sog, nimmt es mit auf eine rauschhafte Reise um die Liebe.

Chirita in Quarantäne (c) Nicu Cherciu
Chirita in Quarantäne (c) Nicu Cherciu

Höhepunkte – musikalisch, klassisch, brandaktuell

   Zu den Höhepunkten des Festivals gehörte Chiriţa in Quarantäne, eine Konzert-Show von Ada Milea nach Matei Milo. Mit viel schwarzem Humor analysiert die Produktion des Nationaltheaters in Klausenburg die Quarantänegewohnheiten der Rumänen. Der Roboter-Technologie wortwörtlich gegenübergestellt, ist die emblematische Figur der rumänischen Literatur die Quintessenz der rumänischen Gesellschaft. Ein anderes Festival-Highlight war die von Euripides „Die Backchenˮ inspirierte Produktion des Nordtheaters Satu Mare Die Backchen (ohne Maske). Maria Manolescu Borșas freie Neufassung und Dragoș-Alexandru Mușoius Inszenierung im Freien, im Innenhof des Theaters, schlagen ein sozial-politisches Theater vor.

Zerschnittenes Grün (c) Adina Nedisan
Zerschnittenes Grün (c) Adina Nedisan

Mit viel Spannung wurde die hochgelobte Produktion Zerschnittenes Grün erwartet. Einerseits handelt es sich um ein Werk von unabhängigen Künstlern in der Stadt Zalău, die kein Theater besitzt. Andererseits wird darin zum ersten Mal die Holzmafia angesprochen. Das Stück der jungen Dramatikerin Alexandra Felseghi befindet sich an der Schnittstelle zwischen Sozial-und Dokumentartheater. Die Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit: Die Ermordung eines Försters, der einen illegalen Holzeinschlag unterbinden wollte. Trotz aller Bemühungen um Gerechtigkeit scheint die Korruption allgegenwärtig und allmächtig zu sein. Adina Lazărs Inszenierung besteht aus einer Abfolge von realistischen Szenen, die ab und zu durch Videos unterbrochen werden. Vor allem das minimalistische Bühnenbild ist symbolisch: Baumstümpfe bestimmen den Bühnenraum.

VIP – Very Isolated Person (c) Ovidiu Zimcea
VIP – Very Isolated Person (c) Ovidiu Zimcea

 Medienkunstperformances

     Obwohl die Theater in der letzten Saison oft pandemiebedingt geschlossen wurden oder in der unangenehmen Lage waren, nur 30 oder 50 Prozent der Sitzplätze zu nützen, ist der Premieren-Reigen sowie die Themen- und Formenvielfalt beeindruckend. Auch in Rumänien experimentierten Künstler während der Lockdowns mit der Technologie. Zu den erwähnenswerten Digital-Ergebnissen gehören die immersive Show im VR-Format Einer flog über das Kuckucksnest nach Ken Kesey (Drehbuch und Regie Eugen Geymant; eine Produktion des „Andrei Mureşanuˮ Theaters aus Sfântu Gheorghe) und VIP – Very Isolated Person, eine Performance über die Entfremdung des Künstlers während der Quarantäne (Konzept und Regie Paula Lynn Breuer und Olga Török, Schauspielerin des Deutschen Staatstheaters Temeswar). Ein beeindruckendes Großprojekt war Der Hektomeron-Tag. Die 25-stündige Performance des Nationaltheaters aus Craiova, in der 100 Regisseure aus der ganzen Welt Geschichten aus Boccacios „Das Dekameron“ in die Gegenwart übertragen, entstand in diesem Frühjahr als Reaktion auf die durch die Pandemie verursachte soziale Distanz. Auch drei Werke der Online-Aufführungsplattform des Nationaltheaters aus Hermannstadt waren Teil des Festivalprogramms.

Zu guter Letzt wurde der vor zwei Monaten unerwartet verstorbene Ion Caramitru gesondert gewürdigt. Durch seine visionäre Persönlichkeit und nicht zuletzt durch seine künstlerischen Fähigkeiten übte Caramitru eine besondere Wirkungskraft aus. Er war Schauspieler, Regisseur, sechzehn Jahre lang Direktor des Nationaltheaters Bukarest, seit 1990 Gründer und Präsident des Vereins der rumänischen Theater (UNITER). Das Modul „In memoriam Ion Caramitruˮ verknüpfte Interviews, Talkshows, Radio- und Fernsehsendungen, deren Protagonist der einflussreiche Künstler ein halbes Jahrhundert lang gewesen war.

 

Fazit: Das Nationaltheaterfestival bleibt eine Plattform zur Unterstützung und Förderung der rumänischen Theaterszene. Die vom künstlerischen Leiter-Trio Oana Cristea Grigorescu, Cristina Rusiecki und Claudiu Groza ausgewählten Produktionen haben es geschafft, aktuelle Fragen und Empfindungen anzusprechen sowie lustvoll zum Nachdenken anzuregen in einer Zeit, die aus den Fugen geraten ist.


Nationaltheaterfestival Bukarest 2021 (Teil 1):

Buchpräsentationen, visuelle Einrichtungen, Konferenzen – mehr als ein Begleitprogramm

Irina Wolf

(13. November 2021)

 

  Eigentlich hätte die 31. Ausgabe des rumänischen Nationaltheaterfestivals endlich Ende Oktober wieder mit Publikum stattfinden sollen. Doch die Pandemie machte erneut einen Strich durch die Rechnung. Mit Blick auf die steigenden Infektionszahlen haben die Organisatoren im Eiltempo eine Online-Ausgabe auf die Beine gestellt, die sich als ein großer Erfolg entpuppte. Zum zweiten Mal in Folge wurden die Festspiele ins Internet verlegt, sodass Zuschauer aus aller Welt die Möglichkeit hatten, dem Festival vom 6. bis 14. November beizuwohnen. Das Programm war ein bunter Reigen aus Theater, Tanz, performativen und visuellen Installationen, Radiosendungen, Ausstellungen, Buchpräsentationen und vieles mehr.

   Das vom künstlerischen Leiter-Trio, bestehend aus den Theaterkritikern Oana Cristea Grigorescu, Cristina Rusiecki und Claudiu Groza, vorgeschlagene Konzept lautete „Kreation. Entspannung. Neuschöpfung“ (Creation. Recreation. Re-Creation). Den Regeln entsprechend wurden nur Produktionen ausgewählt, die ihre Premiere in der Saison 2020-2021 gefeiert hatten. Trotz der Pandemie erwies sich die Theaterszene in diesem Zeitraum als äußerst produktiv und kreativ. So geben 38 bemerkenswerte Inszenierungen einen vertieften Einblick in den Status quo des rumänischen Theaters. Traditionsgemäß gehörten zum Programm auch diesmal vier ausländische Produktionen. Der Zugang zu allen Streams war kostenlos, die meisten Aufzeichnungen mit englischen Untertiteln für 48 Stunden auf www.fnt.ro verfügbar.

   Als außerordentlich produktiv erwies sich auch die Publikationssparte. Bücher gewidmet bekannter rumänischer Regisseure, Schauspieler und Theaterhäuser, Theatertexte, Zeitschriften, Romane. Nicht weniger als 45 Neuerscheinungen wurden im Rahmen des Nationaltheaterfestivals in einem durchaus innovativen und attraktiven Konzept präsentiert: In einem kurzen Video, nicht länger als 2-3 Minuten, stellten die Autoren ihre Bücher selbst vor. Die Themen reichten von einer Geschichte des Zirkusses oder dem Clown als Bewahrer der Theatralität bis zu pädagogischem Theater, Theater als neue Technologie im Digitalalter und dem Kronleuchter als emotionsweckendem Gegenstand. „Marketing der darstellenden Kunst“ und „Leben und Theater auf der Weltbühne“ sind weitere Titel, die von einer schriftstellerischen Vielfalt zeugen. Besonders nennenswert ist die Trilogie „Diskurs der Theaterkritik im Kommunismus“ von Miruna Runcan, ein wichtiges Nachschlagewerk für Studierende und Erforscher der rumänischen Theaterszene von 1950 bis 1989.

   „Visuelle Einrichtungen“ hieß das Modul, das neben der Online-Komponente auch live erlebt werden konnte. Ohne Zweifel war sowohl für Passanten als auch für die virtuellen Zuschauer die Präsentation des Multimedia Wörterbuches des Rumänischen Theaters (DMTR) ein besonderes Ereignis. Das spektakuläre Videomapping kreiert von der Regisseurin Carmen Lidia Vidu an der Fassade des zentralgelegenen Odeon-Theaters brachte alle zum Staunen. Das von der Theaterkritikerin Cristina Modreanu ins Leben gerufene DMTR ist eine digitale Plattform, die spezialisierte Inhalte bietet, gleichzeitig aber auch die bereits online vorhandenen Informationen über legendäre rumänische Künstler und Produktionen vereint. Die Künstler- und Inszenierungsprofile werden von einem Team von über 50 Personen, bestehend aus Theaterfachleuten und Studierenden der Theaterfakultäten, erstellt. Derzeit umfasst das Projekt 100 Wörterbucheinträge, in denen man auf www.dmtr.ro schmökern kann. Eine geplante englische Version wird abhängig von den Finanzierungsmöglichkeiten umgesetzt werden.

   Sind die Bühnenbildner die von der Pandemie am stärksten betroffenen Künstler? Dieser Meinung scheint Cristina Rusiecki zu sein: „Ermüdet von der Filmperspektive, bei der die Projektion manchmal schwer von dem Bühnengeschehen abzugrenzen ist, wollten wir wieder in den dreidimensionalen Raum der Bühnenbildner eintauchen“, sagt die Theaterkritikerin und -kuratorin. Aus diesem Grund wurde die von Adrian Damian koordinierte Konferenz „NEXT ON STAGE. Perspektiven in der Szenografie“ online organisiert. Die gut besuchte Veranstaltung hatte zum Ziel, die aktuelle Situation der Bühnenbildnerei in Rumänien zu analysieren, Aspekte der Position des Bühnenbildners innerhalb des Kreativteams hervorzuheben und seine Beziehung zu anderen Künstlern zu besprechen.

   „In gewisser Weise versucht die Auflage 2021 des Nationaltheaterfestivals, die Verluste des letzten Jahres mit den lebenswichtigen Energien des Fortbestehens und der Neuschöpfung auszugleichen“, behauptet Oana Cristea-Grigorescu. Ob das gelungen ist, werden Sie im nächsten, den ausgewählten Produktionen gewidmeten Beitrag, erfahren.


(c) Razvan Dima
(c) Razvan Dima

Gerechtigkeit in die eigenen Hände nehmen

 (8. April 2021)

 

Schon während des ersten Lockdowns im Frühjahr vergangenen Jahres zeigte sich Bobi Pricop daran interessiert, neue Theaterformen zu entwickeln. Die angestrebte intermediale Begegnung zwischen Theater und Technologie zeigte durchaus Erfolge: Es entstanden eine Hybridproduktion und ein vielversprechendes digitales Experiment. Seine letzte Premiere ist „Tag Z“, eine Online-Live-Montage und -Übertragung aus dem Saal des Staatstheaters Constanța und einem fahrenden Auto.

Tag Z“ geht von einem realen Ereignis aus: Ein alkoholisierter junger Mann hat einen tödlichen Unfall verursacht, wird jedoch freigesprochen, weil sein Vater, ein einflussreicher Bauunternehmer, mit den Richtern in enger Verbindung steht. Infolgedessen beschließt eine Gruppe von vier jungen Menschen, einen Versuch einzuleiten, um eine faire Gesellschaft zu schaffen. Dementsprechend wird der Täter entführt und die Geiselnahme medial verfolgt. In Echtzeit überträgt der lokale Fernsehsender „Brise TV“ sowohl die Entführung als auch die Kommentare von eingeschalteten Familienmitgliedern des Entführten, Polizeibeamten, Politikern und Soziologen. Dabei entpuppt sich, dass das Verschleppungsquartett nicht Lösegeld, sondern eine „bessere“, gerechtere Welt anstrebt. Davon zeugt auch das Manifest, das die vier vor laufender Videokamera aussprechen. Dass die Aktion schief gehen wird, ist voraussehbar.

Autor Ionuț Sociu nimmt die Geschichte zum Anlass, um brisante gesellschafts- und sozialpolitische Themen in den Vordergrund zu rücken: Korruption, Kriminalität, Missbrauch europäischer Geldmittel, die wachsende Perspektivlosigkeit der jungen Generation, all dies und vieles mehr fügen sich in der knapp einstündigen Produktion zu einem apokalyptischen Bild zusammen. Nicht von ungefähr ist der Austragungsort des Geschehens die rumänische Hafenstadt Constanța am Schwarzen Meer. Hier lebte und starb der aus Rom verbannte Dichter Ovid, Autor der „Metamorphosen“. Im Altertum hieß der heutige Ort Constanța „Tomoi“ oder „Tomis“. Der griechischen Mythologie nach wurde er von Medeas Vater, König Aietes, gegründet, der in Tomis die Leichenteile seines von Medea getöteten Sohnes begrub. Die Wiederholung des Mordes ist naheliegend.

Die Inszenierung ähnelt einer Fernsehsendung, durch die zwei Moderatoren führen. Ihre unbeweglichen Gesichtsausdrücke sind verblüffend. Die Eilmeldung (breaking news) der Entführung unterbricht das Tagesprogramm, das aus einer Astrologie-Show und einer Sendung über Essensgewohnheiten einiger Unterstützer der jungen Partei AUR (der neuen rechtspopulistischen Partei „Allianz für die Union der Rumänen“, die bei den letzten Wahlen einen Überraschungserfolg erzielt hat) besteht. Immer wieder werden Live-Szenen aus dem fahrenden Auto oder aus verschiedenen Räumlichkeiten eingeblendet – Aspekte, die nicht zu vernachlässigen sind, folgen sie doch auch der Einhaltung der von der Pandemie generierten Abstandsregeln.

Die Regievorgaben sind auf zwei Hauptebenen gegliedert: den Dreharbeiten im Auto und denjenigen im „Studio“ des Brise-TV-Nachrichtensenders (Bühnenbild: Oana Micu). Das von Răzvan Rusu überaus professionell erzeugte Streaming trägt wesentlich zum Realitätseffekt bei. Einen authentischen Eindruck hinterlassen auch die Übertragungen mit verschiedenen Gesprächspartnern und die aufgezeichneten Werbeblöcke, deren Montage in Echtzeit (live) im Theatersaal stattfindet. 

Durch das hohe Erzähltempo und das von Eduard Gabia geschaffene Klanguniversum ähnelt die Produktion einem anspruchsvollen Psychothriller. Die Nervosität und Ungeschicklichkeit der Entführer (sie starten die Live-Übertragung aus dem Auto versehentlich um ein paar Minuten zu früh, noch bevor sie ihre Masken aufgesetzt haben) und die Wendungen der Geschichte (zum Beispiel als das Quartett selbst einen Autounfall verursacht) sorgen für Spannung. Bobi Pricop schafft es, eine besondere Atmosphäre zu kreieren und die Schauspieler, die eine gewinnbringende Mischung aus Glaubwürdigkeit und Aggression zeigen, gekonnt zu führen. Jede Szene enthält etwas schrecklich Reales und gleichzeitig humorvoll Absurdes. Mit „Tag Z“ haben Bobi Pricop und sein Team eine herausragende, innovative Arbeit geleistet, die den Zuschauer in die Lage versetzt, über die Wahl zwischen Gut und Böse nachzudenken.


Was bleibt? Zur Inszenierung von Gedächtnis und Identität im postsowjetischen Kuba und Rumänien. Rezension der Dissertation von Carola Heinrich, im Aurora-Magazin (01. März 2021)


"Weitermachen, kreativ sein, nicht aufgeben", Interview mit Oltita Cîntec, im Aurora-Magazin (22. Dezember 2020)


(c) Florin Boicescu
(c) Florin Boicescu

 

Tagebuch einer Revolution

 (29. November 2020)

 

Knapp nach dem ersten coronabedingten Lockdown feierte am Nationaltheater Bukarest „Tagebuch Rumänien. 1989“ der Künstlerin Carmen Lidia Vidu Premiere. Bekannt als Multimedia-Theater- und Filmregisseurin sorgte Vidu bereits in den letzten fünf Jahren für Aufsehen auf der nationalen und internationalen Szene mit ihrem Projekt „Tagebuch Rumänien“. 2017 gastierte sie im Schauspielhaus Wien mit „Tagebuch Rumänien. Sfântu Gheorghe“ und „Tagebuch Rumänien. Constanţa“. Zwei Jahre später war sie im Theaterhaus Jena mit „Tagebuch Rumänien. Temeswar“ zu Gast. Im November 2020 gewann Vidu bei den Internationalen Filmfestspielen Karlsruhe „Independent Days“ den Female Award (gestiftet von der Stadt Karlsruhe) für den Kurzfilm „My Romanian Diary“.

Ausschlaggebend für dieses umfangreiche dokumentarische Projekt, das unter dem Übertitel „Tagebuch Rumänien“ entstand, war ein verheerendes Feuer 2015, bei dem in einem Klub in Bukarest 64 Menschen ums Leben kamen. Die Unfähigkeit des Staates, Korruption zu bekämpfen und seine Bürger zu schützen, regte Vidu dazu an, sich vom herkömmlichen Theater abzuwenden und sich gesellschaftspolitisch zu engagieren. Waren die ersten drei Theaterproduktionen ebenso vielen rumänischen Städten gewidmet, fasst Vidu in „Tagebuch Rumänien. 1989“ den Umsturz des Kommunismus in ihrem Lande ins Auge. Die rumänische Revolution dauerte nur eine Woche; in den Wirren starben aber über 1000 Menschen. Am 25. Dezember 1989 wurde Diktator Nicolae Ceauşescu exekutiert. Bis zum heutigen Tag werden die Umstände des politischen Wechsels in Rumänien kontrovers diskutiert. „Tagebuch Rumänien. 1989 ist meine Art zu zeigen, dass Du die Geschichte mitgestaltest, dass Deine Einstellung wichtig ist“, sagt Vidu im gut gestalteten Programmheft. Diese Auffassung entstand aus der Überzeugung der Künstlerin, dass „das Theater Gefahr läuft, für die Gemeinschaft irrelevant zu werden“ und dass „Selbstgefälligkeit zu unserer Isolation führt, denn wir hören nur auf Meinungen, die unsere eigenen bestätigen“.

Für alle Tagebücher zeichnet Carmen Lidia Vidu für Text und Regie verantwortlich. Der Ablauf ist immer derselbe: Die Regisseurin spricht während des Entstehungsprozesses mit den Schauspieler*Innen sowohl über deren Privatleben als auch über ihre Mitgestaltung und Mitwirkung am Stadtleben beziehungsweise an der Revolution. Danach wird das Material gesichtet und die Einzelauftritte der jeweiligen Ensemblemitglieder zu einem stimmigen Ganzen zusammengefügt. Ion Caramitru, Oana Pellea, Florentina Țilea und Daniel Badale sind die vier Protagonisten von „Tagebuch Rumänien. 1989“. Sie verkörpern keine Charaktere, sie enthüllen einen Teil ihrer eigenen Biografie und schildern vor allem, wie sie die turbulenten Ereignisse von 1989 erlebt haben. Die vier Perspektiven könnten nicht unterschiedlicher sein. Ion Caramitru, derzeit Direktor des Nationaltheaters Bukarest, war zur Zeit der Revolution 47 Jahre alt und zählte zu den bekanntesten Schauspielern. „Brüder, wir haben gewonnen!“, rief er 1989 voller Begeisterung in der Live-Ausstrahlung des rumänischen Fernsehsenders TVR. Heute verurteilt Caramitru vehement die „gescheiterte“ Revolution. Die seinerzeit 26-jährige Oana Pellea folgte im Dezember 1989 dem Aufruf zur Verteidigung des Fernsehsenders, ein Ort, um den harte Kämpfe ausgefochten wurden. Sie wurde irrtümlicherweise für die Frau eines Terroristen gehalten. „Nichts im Leben ist umsonst, nur der Tod“, sagt die Schauspielerin. Worte, die mit Sicherheit vielen Zuschauern nahegehen.

Florentina Țilea war 1989 erst 12 Jahre alt. Sie gehört zur Generation, „die mit Respekt vor Angst erzogen wurde“. Țilea war Teil der auserwählten Kinder, die patriotische Gedichte während Ceauşescus Stadtbesuchen in Iaşi vortragen sollten. Als seine Rezitatorin genoss sie „Privilegien“ des Kommunismus wie Cola-Getränke, Bananen und Auslandsreisen in die DDR. Ceauşescus Erschießung erfüllte sie mit Trauer. Sie vergoss sogar einige Tränen. Ein Sonderfall ist auch Daniel Badale. Vor 30 Jahren leistete er den Militärdienst und hätte somit auf Anforderung auf die rebellierende Zivilbevölkerung schießen müssen – wozu es glücklicherweise nicht kam. Er erinnert sich, dass sein gepanzertes Kampffahrzeug zur Zeit der Revolution am Universitätsplatz im Zentrum Bukarests positioniert war und vor ihm sich unter anderem Ion Caramitru befand.

Es sind völlig verschiedene Eindrücke von Menschen aus unterschiedlichen Generationen, die Vidus Inszenierung präsentiert. Die vier einzigartigen Monologe werden durch drei Videoeinspielungen ergänzt. Diese enthalten Interviews mit Dan Voinea (ehemaliger Staatsanwalt, der die „Revolutionsakte“ untersuchte), Germina Nagâț (Mitglied des Nationalen Kollegiums für das Studium des Sicherheitsarchivs) und mit dem bekannten britischen Historiker Dennis Deletant (ein Experte für den rumänischen Kommunismus). Ihre kurzen Interventionen liefern wichtige Informationen und werden als Verbindungselemente zwischen den vier Live-Auftritten der Schauspieler*Innen eingesetzt. All diese Erzählungen ergeben ein anschauliches Bild jener Zeit.

Doch leben Carmen Lidia Vidus Inszenierungen sowohl von den unterschiedlichen Bühnen-Persönlichkeiten als auch von der Umrahmung, in die ihre jeweiligen Geschichten eingebettet werden. Gut ausgesuchte Fotos aus dem Leben der Darsteller*Innen und ihren Familien, pfiffige Videosequenzen greifen ineinander und erzeugen ein Gesamtbild, das besonders spannend wirkt und jeden Zuschauer anspricht. Im Falle von „Tagebuch Rumänien. 1989“ spielt der Multimedia-Teil eine besondere Rolle. Aufgrund der Pandemie musste die für das Frühjahr ursprünglich geplante Premiere verschoben werden. Die neuen restriktiven Maßnahmen führten dazu, dass sie im Freien auf der fantastischen Dachterrasse des Theaters gezeigt wurde. Anstatt den über 300 Sitzmöglichkeiten konnten in der Amphitheater-Halle im siebenten Stockwerk nur 60 zur Verfügung gestellt werden. Groß war das Staunen, als die Zuschauer von Vidus Projektionen, die Bilder aus den dramatischen Ereignissen der Revolution, aber auch aus dem Leben der Schauspieler*Innen zeigen, „überrollt“ wurden. Denn die Regisseurin nutzte dabei die riesige Fläche der zur Verfügung stehenden Leinwand von 33 Metern Länge und 21 Metern Höhe, die auf dem Dach des Gebäudes thront. Die Projektionen blieben auch von Passanten am Universitätsplatz nicht unbemerkt. Dass der Universitätsplatz als Kilometer null der Revolution bezeichnet wird, weil dort die meisten Menschen 1989 starben, gilt ebenfalls als emblematisch. Es sei hier noch erwähnt, dass Cristina Baciu den Multimedia-Ansatz leitet, Ovidiu Zimcea für die Musik und Gabriela Schinderman für den Comic-Streifen, der die chronologische Abfolge der Ereignisse wiedergibt, verantwortlich zeichnen. Sie alle tragen zum Erfolg der Inszenierung bei.

Vidus dokumentarische Multimedia-Theaterproduktion – so der Untertitel von „Tagebuch Rumänien. 1989“ –, ist rührend und unterhaltsam zugleich. Dieser wichtige Beitrag über den bewegten Abschnitt der rumänischen Geschichte spricht sowohl die ältere Generation, die den Kommunismus erlebt hat als auch junge Menschen, denen die Ceauşescus Diktatur und die Ereignisse vom Dezember 1989 unbekannt sind, an. Kaum ein Werk der rumänischen Theaterszene hat in den letzten Jahren so viel öffentliches Interesse geweckt – ein deutliches Zeichen dafür, wie außergewöhnlich und zugleich notwendig dieses Projekt ist.

 

(siehe auch www.aurora-magazin.at vom 09.01.2021)


(c) David Pujadas Bosch
(c) David Pujadas Bosch

Wo ist Walter? Ein innovatives und humorvolles Walking-Theater

 (8. Oktober 2020)

 

Es ist ein kalter Vormittag Ende September. Neben mir versammelt sich eine Gruppe von zwanzig Kindern vor dem Dschungel Wien im Hof des Museumquartiers. Die Schulklasse ist begleitet von zwei Betreuerinnen. „Wo ist Walter? Reloaded“ heißt die Produktion von „Theater-Company TWOF2 + dascollectiv“, die auf dem Programm steht. Dass dies eine Performance im öffentlichen Raum mit Kopfhörern sein wird, ist das Besondere daran. Vor dem Start sollen noch die Mobiltelefone ausgeschaltet werden. Da fragt doch gleich ein Junge, wieso das denn sein muss. „Weil das eine Theateraufführung ist“, lautet die Antwort. Jetzt können wir uns auf den Weg machen.

Zuerst betreten wir einen dunklen Raum. Die Kinder finden sich schnell zurecht. Ich kann mich kaum orientieren. Erst langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit und entdecken auf dem Boden viele kleine Papiertaschen. Aus jeder leuchtet ein winziges grünes Licht hervor. Es sind genauso viele Beutel wie Teilnehmer. Bevor wir uns dem Inhalt der Taschen widmen können, wird ein Film ausgestrahlt. Ein Boardcomputer namens WaViD-20 lädt uns auf eine intergalaktische Reise ein. Auf einer großen Leinwand werden Planeten gezeigt, während uns eine Stimme Informationen zu diesen liefert. Doch auf einmal gibt es eine Störung und wir landen „auf einem unbekannten Planeten“. Unsere Aufgabe ist es, diesen zu erforschen, herauszufinden, wie die Bewohner leben, welche Gewohnheiten und Bräuche sie haben, was sie glücklich macht. Heißt das, wir sollen mit den Wienern auf den Straßen interagieren? Das und vieles mehr werden wir bald herausfinden. Der auf dem Raumschiff gebliebenen Crew sollen wir auch noch Informationen über die Umgebung liefern.

Endlich werden wir aufgefordert, die Sachen aus den Taschen anzuziehen: eine Regenjacke und Funk-Kopfhörer – bei Letzteren leuchtete das grüne Licht auf. Am Ende ziehen wir uns den Beutel selbst als „Helm“ über den Kopf. Dieser ist auf einer Seite mit einer durchsichtigen Folie versehen. Genial! Und ab geht es ins Freie. Zuerst erkunden wir den Hof des Museumsquartiers, dann gehen wir in Richtung Secession und durchqueren die Opernpassage. Auf dem Weg berühren wir die Wände des Museums moderner Kunst, spüren die Energie aus den Baumstämmen mit unseren Händen oder verweilen auf den modernen Sitzgelegenheiten im Hof des Musemquartiers. Ein Tablet-Führender, der uns begleitet, steuert gekonnt Anweisungen wie Ampelschaltungen und Straßenquerungen in den Kopfhörern. Ich hatte mich schon gewundert, dass diese zum richtigen Zeitpunkt erfolgen. Ab und zu machen wir lustige Bewegungen: Wir wippen mit dem Becken und heben unsere Arme. Da staunen wohl die an der Ampel wartenden Autofahrer, wenn sie diesem merkwürdigen Tanz zuschauen, zumal wir noch immer die „Helme“ auf den Köpfen tragen. Immer wieder taucht eine Figur auf, die einen Giraffenkopf über dem eigenen Haupt trägt. In der Opernpassage begegnen wir zwei Jugendlichen, die eine Umfrage zur Stimmung des Tages machen. Sind das normale Passanten, die sie da befragen oder weitere Performer der Produktion?

Nach einer knappen Stunde endet die Tour am Karlsplatz. Das Tragen des Nasen-Mund-Schutzes unter dem Helm hat die Sicht erschwert. Durch den Atem wurde die Folie oft feucht und die Sicht benebelt. Trotzdem war die Stadterkundung spannend und die Kinder haben brav mitgemacht. Walter haben wir jedoch nicht getroffen.


(c) Gerhard Breitwieser
(c) Gerhard Breitwieser

Wenn sich die Trauerzeit in Sternenstaub auflöst

 (7. Oktober 2020)

 

Das Bregenzer aktionstheater ensemble ist zu Gast im Werk X Meidling. Die Freude, die von Martin Gruber geleitete Theatergruppe in Wien wieder erleben zu dürfen, ist sehr groß. „Ein Bürgerliches Trauerspiel – Wann beginnt das Leben“ heißt ihre neue Koproduktion mit dem Landestheater Linz. Auf den ersten Blick entdecke ich nichts Besonderes auf der Bühne: eine Gitarre, ein Schlagzeug und ein Mikrofon, dazwischen fünf mit Müll beladene Gittercontainer, die hervorlugen. Ansonsten herrscht Leere auf der Spielfläche – wie immer bei Martin Gruber.

Doch nach wenigen Minuten kommt viel Bewegung auf: Thomas Kolle und Horst Heiß hören kaum auf, ihre Beine zu kreuzen, während sie auf Liegestühlen sitzen. Das andauernde „Beintraining“ wirkt ansteckend. Nur mit Mühe schaffe ich es, mich zurückzuhalten und es den beiden nicht nachzumachen. Ab und zu stehen sie auf, klappen die Liegestühle zu und drehen sich damit um die eigene Achse. Währenddessen wird viel erzählt. Tomaten-Mafia, Flüchtlinge, Handy-Überwachung, Fake News, Gulasch-Rezept, Alkohol-Konsum während des Corona-Lockdowns, Vergewaltigung, Nationalismus und vieles mehr. Was da alles in den Text hineinpassen kann! Erinnern Sie sich noch an das kubanische Medizinerteam in Anti-Coronavirus-Mission in Italien? Im Gegensatz dazu hat Michaela Bilgeri Seife mit im Gepäck, um sie den Armen auf ihrer Kuba-Reise zu schenken. Dass auch über Theater geredet wird, ist selbstverständlich, hat die Bundesregierung doch gesagt, dass „wir gerade jetzt in diesen Zeiten der großen Not die österreichischen Künstler und Künstlerinnen sehr unterstützen müssen“.

Es ist nicht einfach, Grubers Ideen-Schwall zu folgen, zudem ferner Lessing, Goethe, Ibsen und Schnitzler noch hinzukommen. Ergreifend herrlich spaziert Benjamin Vanyek in einem viktorianisch historischen Trauerkleid die Bühne entlang und ahmt Paula Wessely nach. Auch alle anderen liefern eine überzeugende schauspielerische Leistung. In typischer Gruber-Manier wechseln sich perfekt choreografierte Tanzszenen mit gefühlvollen Liedern ab. Für den passenden Sound sorgen Kristian Musser, Alexander Yannilos und Nadine Abado. Die Show ist so verspielt, irritierend und vielfältig, dass die Zeit im Nu verfliegt.

Doch gegen Ende werden die Bilder immer düsterer, das Licht reduziert sich ebenso stark wie die Anzahl der Schauspieler. Der Konsum-Müll und auch der „menschliche“ Abfall scheint unsere Welt im Griff zu haben. Nur Sternenstaub kann Magie verbreiten und ein Zeichen von Hoffnung und Neubeginn setzen. Eine Produktion des aktionstheater ensembles mitzuerleben, ist immer etwas Besonderes. Wer die Gruppe noch nicht kennt, hat keine Ahnung, was ihm da entgeht!


Überzeugend und vielfältig: Italiens junge Theatergeneration im Aurora-Magazin (6. Oktober 2020)


Verlassene Zahnbürste sucht Mensch, im Aurora-Magazin (12. September 2020)


Reisen in Pandemiezeiten, im Aurora-Magazin (20. August 2020)


(c) TNRS, Dan Susa
(c) TNRS, Dan Susa

Online-Theater: Das Nationaltheater Hermannstadt wirkt vielversprechend im digitalen Experiment

 (17. August 2020)

 

Die Corona-Pandemie hat das Kulturleben weltweit grundlegend verändert. Bedingt durch die steigende Anzahl der an SARS-COV infizierten Personen in den letzten Wochen, ist die Eröffnung der Spielsaison 2020/2021 in Rumänien mehr als fraglich. Jedoch geht im osteuropäischen Land das Theaterleben auch im Sommer weiter. So spielen die meisten staatlich geförderten Häuser der Hauptstadt Bukarest auf in Parks eingerichteten Freiluftbühnen. Ganz anders die Lage in Hermannstadt. Dort hat das Nationaltheater „Radu Stanca“ eine Digitalbühne eingerichtet. Bis Anfang Oktober können auf der Online-Plattform anhand einer im Internet erworbenen Karte die in 2020 aufgenommenen Eigenproduktionen angesehen werden. Der Einheitspreis liegt bei umgerechnet knapp über sechs Euro. Alle ausgestrahlten Inszenierungen sind für fünf Stunden ab der Uhrzeit und nur an dem auf dem Ticket angeführten Datum verfügbar.

Eine besondere Stellung im Online-Spielplan nahm die Premiere vom 24. Juli ein. „LIVE“ ist das Ergebnis eines langen Findungsprozesses. Das noch in Vorpandemiezeiten geplante internationale Projekt ist eine Zusammenarbeit zwischen der deutschen Abteilung des Hermannstädter Nationaltheaters, des Dramatikers Thomas Perle und des Regisseurs Bobi Pricop. Besonders spannend ist dabei der Zugang des 1987 in Oberwischau/Rumänien geborenen, in Deutschland aufgewachsenen und in Wien lebenden, 2013 mit dem exil-Literaturpreis ausgezeichneten Thomas Perle zu der digitalen Welt und der rumänischen Gesellschaft.

LIVE besteht aus fünf nacheinander aufgeführten Kurzstücken, die durch die Erforschung der Rolle der digitalen Technologie in unserem Leben zusammengehalten werden. Der Text entstand aus Gesprächen mit den acht Schauspielern und Schauspielerinnen, ist zugleich das Ergebnis einer gründlichen Recherche. Denn in die zwei Monologe und drei Dialoge fließt nicht nur die Erfahrung einzelner Teilnehmer ein, sondern auch umstrittene politische Ereignisse der letzten Jahre wie das 2018 gehaltene Referendum über das Verbot der Homo-Ehe in der rumänischen Verfassung, das erfreulicherweise gescheitert ist. Homophobie und Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung, der andauernde Konflikt mit der in Siebenbürgen lebenden ungarischen Minderheit, Telefonabzocke, um Geld zu ergaunern, die Ausbeutung der Erntehelfer und Pflegekräfte durch den Westen sind einige der Themen, die den aktuellen rumänischen Raum auf unterschiedliche Weise beleuchten. Identitätshinterfragung und mediale Manipulation bleiben dabei die Grundideen des Projektes. „Wie manifestiert sich Wahrheit im Internet? Was ist wahrhaftig? Wie werden wir manipuliert?“, fragt sich der Dramatiker. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmt.

Regisseur Bobi Pricop setzt Thomas Perles kurzes, aber breitgefächertes Stück gekonnt in Szene. Dass dies kein leichtes Unterfangen in den durch die Pandemie bestehenden Proben-Einschränkungen war, ist unumstritten. Not macht erfinderisch. Die Aufnahmeoptionen sind vielfältig und werden vom Regisseur raffiniert genutzt. LIVE wird eigentlich auf der Hauptbühne gespielt, Zuschauer sind im Saal aber keine erlaubt. Obwohl sich die Schauspieler hauptsächlich physisch auf der Bühne befinden, kommunizieren sie ausschließlich über das Internet ihrer Laptops oder Mobiltelefone. Währenddessen nehmen Videokameras die Aufführung auf und senden diese in Echtzeit den Zuschauern, die zu Hause vor ihren Bildschirmen sitzen. Mehrmals werden die Gesichtsausdrücke der Schauspieler in den Vordergrund gerückt, zeitweise werden aber auch nur die Bildschirme der Laptops gefilmt. Jede Live-Episode bedient sich einer anderen Konvention für die Verwendung der digitalen Umgebung, zum Beispiel Videoanruf, Live-Übertragung oder Facebook-Chat-Einschaltung sowie Filmaufnahmen auf der Straße, außerhalb des Theaters. Einzigartig wirkt die Aufzeichnung der Szenenwechsel und des Bühnenbildumbaus, die der Zuschauer auch mitbekommt.

Das gelungene Experiment ist ein Hybrid, das in deutscher Sprache, mit rumänischen und englischen Untertiteln gezeigt wird. Ab und zu wird ins Ungarische oder Rumänische gewechselt – ein besonderes Merkmal des mehrsprachig aufgewachsenen Thomas Perle. Revolutionär und unkonventionell markiert LIVE eine neue Etappe im Repertoire des Hermannstädter Nationaltheaters. Die außergewöhnliche Bühnenästhetik zeugt von einem feinfühlig überlegten innovativen Format, wodurch die Beziehung zum digitalen Erlebnis des Zuschauens von zu Hause aus völlig neu überdacht wird.


Zwei Magier der Farben, im Aurora-Magazin (1. Juli 2020)


Dreißig Jahre Theaterfreiheit, im Aurora-Magazin (15. Dezember 2019)


Herzliche Grüße an das "Luceafarul"-Theater Iasi!, im Aurora-Magazin (1. November 2019)


Ein Jugendtheater, das sehr erwachsene Fragen stellt, im Aurora-Magazin (12. Oktober 2019)


Liebe - Scheitern - Gott, über die 47te Auflage der Biennale von Venedig, im Aurora-Magazin (4. September 2019)


Autoreifen + Schokolade = Politik!, im Aurora-Magazin (3. August 2019)


(c) Herbert Neubauer
(c) Herbert Neubauer

Zum 47. Mal Nestroy-Spiele in Schwechat

 von Irina Wolf

(11. Juli 2019)

 

           Rund zwei Dutzend riesengroße braune Holzkisten sind willkürlich auf der Bühne verteilt. Auf den ersten Blick scheinen sie Gepäckstücke zu sein, handelt doch die neue Produktion der Nestroy-Spiele in Schwechat von einem Wohnungsumzug. „Nestroys Wohnung zu vermieten“ – so der von Regisseur und Intendant Peter Gruber gekürzte Titel der beißenden Posse „Eine Wohnung ist zu vermieten in der Stadt. Eine Wohnung ist zu verlassen in der Vorstadt. Eine Wohnung mit Garten ist zu haben in Hietzing“. Bereits nach drei Aufführungen musste das 1836/37 entstandene Stück abgesetzt werden, erfährt man aus dem wie immer gut bebilderten Programmheft mit ausführlichen Beiträgen. Erst 1923, nachdem Karl Kraus Teile des Stückes in seine erfolgreichen Leseabende aufnahm, sollte die „meisterhafte Spießersatire“ neu entdeckt werden.

            Von einem Flop kann auf Schloss Rothmühle in Rannersdorf 2019 gar nicht die Rede sein. Im Gegenteil, Peter Gruber gelingt es wieder einmal, eine schwungvolle Inszenierung auf die Bühne zu bringen. Den perfekten Rahmen dafür bildet das gut durchdachte Bühnenbild, für das der Regisseur selbst verantwortlich zeichnet. Es ist überraschend simpel, aber wirkungsvoll und trägt wesentlich zur Dynamik der Ereignisse bei. Denn die mit Türen ausgestatteten Holzkisten entpuppen sich als Überraschungsverstecke: Aus einer kommt eine Dusche zum Vorschein, aus einer anderen ein „Kapitalist und Gourmand“ mit Messer und Gabel in Händen als „Wachsfigur“ ausgestellt (Franz Steiner), aus allen schlüpfen Menschen heraus, um dann wieder hinein zu verschwinden.

            Eine Fülle von Figuren bevölkert die Geschichte rund um den Herrn „Grundlhuber“, der mit seiner Gattin, den drei Söhnen im Kindesalter, einem Baby und der Kinderfrau aufbricht, um eine größere Wohnung zu suchen: ein in rosafarbenes Gewand identisch gekleidetes Damenquinttet (die Adabei-Damen), ein Polizist, zwei Drag-Queens als Kellnerinnen, die Besitzerin eines Wachsfiguren-Kabinetts, ein Glasermeister aus Penzing und viele mehr. Sie alle – insgesamt sind es nicht weniger als 37 DarstellerInnen! – tragen zum Erfolg des Abends bei. Wie auch in den vorherigen Jahren ist das Ensemble, bestehend aus Laien und ProfischauspielerInnen sowie einigen Neuzugängen der Elfriede-Ott-Akademie, bestens aufeinander eingestimmt. Die gesamte Künstlergruppe beeindruckt durch intensives Spiel, allen voran Bruno Reichert als Grundlhuber, Bella Rössler als seine Gattin und Rupert Herret als Hausmeister Cajetan Balsam.

            Peter Gruber lässt der Sprache Raum zur Entfaltung, baut dennoch etliche Musicalszenen in die Inszenierung ein und bespickt den Text in gewohnter Manier mit politisch aktuellen Couplet-Zusatzstrophen angeregt durch das Ibiza-Video. Ideenreich und fantasievoll zeigt sich der Regisseur: So sorgt zum Beispiel ein „menschliches“ Fiaker für viele Lacher, hingegen lädt die zu „erstarrten Bildern“ verwandelte Freizeitgesellschaft zur Bewunderung ein. Unübersehbar auch die blauen und türkisfarbenen Fähnchen, die als Absperrung eines Tatortes dienen.

            Fazit: Rasant und einfallsreich inszeniert. Ensemble, Bühnenbild und Musik (virtuos Otmar Binder am Klavier!) – alles ist hier stimmig. Nur noch bis 3. August ist „Nestroys Wohnung zu vermieten“ zu sehen. Nichts wie hin!       

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Zum 47. Mal Nestroy-Spiele in Schwechat
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Turin in Festkleidung: Zehn gute Gründe um dabei zu sein!, im Aurora-Magazin (15. Juli 2019)


Vorgetäuschte Vergangenheitsbewältigung, im Aurora-Magazin (02. Juni 2019)


Der Urschrei der Freiheit, im Aurora-Magazin (15. April 2019)


Orientalische Impressionen aus einem untergegangenen Land, im Aurora-Magazin (08. März 2019)


Diese Frauen setzen ein Zeichen!, im Aurora-Magazin (07. Februar 2019)


über die Internationale Bukarester Theaterplattform 2018: Rumänische Geschichte im Kleinformat, im Aurora-Magazin (12. Januar 2019).


über das rumänische Nationaltheater-Festival 2018: Hundert neue Welten entdecken, im Aurora-Magazin (13. Dezember 2018).


über das Internationale Theatertreffen 2018 in Klausenburg: Tiefe Einblicke ins Gestern und Heute, im Aurora-Magazin (23. November 2018).


Matei Vișniec im Gespräch

 mit Irina Wolf

 (19. November 2018)

 

Mein Theater ist aus dem Bedürfnis nach Sakralität entstandenˮ

 

Matei Vişniec studierte Geschichte und Philosophie and der Universität Bukarest. Während der kommunistischen Ceauşescu-Diktatur flüchtete er von Rumänien nach Frankreich. Er lebt seit 1987 als Theater- und Romanautor in Paris und arbeitet auch als Journalist für Radio France Internationale. Vişniec schrieb über 40 Theaterstücke, die bisher in 30 Ländern aufgeführt wurden. Er ist auch einer der gefragtesten Autoren des berühmten Festivals de Théâtre d'Avignon. In Rumänien ist Matei Visniec seit dem politischen Umsturz einer der meistgespielten Theaterautoren.

 

Irina Wolf: Sie sind der meistgespielte zeitgenössische rumänische Dramatiker. Wie haben Sie begonnen Theaterstücke zu schreiben?

 

Matei Vișniec: Wie viele andere Jugendliche im Rumänien der 70er Jahre hat mich zuerst die Dichtkunst gereizt. Damals war Lyrik eine Art intellektuelle Flucht, eine geheime Sprache, ein Ausweg, um dem ideologischen Druck zu entkommen.

 

Das Theater habe ich durch das Lesen von Stücken, nicht durch Aufführungen, entdeckt. Ich schätzte schlichtweg die sogenannte dramatische literarische Gattung. Schon im Gymnasium spürte ich eine Vorliebe für Dürrenmatt, Pirandello, Beckett, Ionesco... Es machte mir großen Spaß, auch das an Dialogen reiche Kurzdrama des rumänischen Klassikers Ion Luca Caragiale zu lesen. Von diesem Schriftsteller, der Ende des 19. Jahrhunderts die rumänische Literatur prägte, habe ich die Relevanz der Repliken im Drama gelernt, was es bedeutet, durch einfache Dialoge, ein Bild, eine Stimmung und eine dramatische Situation zu schaffen.

Ich bin in Nordrumänien geboren, in einer kleinen Stadt, in der selten gute Theateraufführungen stattfanden. Jedoch kam jährlich der Zirkus in die Stadt! Wann immer Zirkuskünstler mit ihren Wohnwagen, ihren Tieren, ihren Clowns und ihrer Musik eintrafen, erlebte die Stadt eine vollkommene Veränderung. Es passierte etwas Magisches, es gab eine Fülle von fantasievollen und ungewohnten Ereignissen. So habe ich gelernt, dass der Künstler ein professioneller Störfaktor des Alltäglichen, der Normalität, ist...

Desweiteren führten Feierlichkeiten, die in den Dörfern rund um meine Heimatstadt stattfanden dazu, dass ich Theaterstücke zu schreiben begann. Hochzeiten, Taufen, Begräbnisse und Winterfeste waren allesamt überraschende Ereignisse, bei denen die Menschen plötzlich aus dem Alltag ausbrachen und zu Charakteren wurden. Rituale wurden vom Vater auf den Sohn übertragen. Diese sakralen Momente waren ebenfalls eine Quelle der Inspiration. Im Übrigen ist mein Theater aus dem Bedürfnis nach Sakralität entstanden.

 

IW: Sie gaben Ihr Debütˮ vor 26 Jahren beim Avignon Festival. 2018 wurden mehrere Stücke von Ihnen im OFF präsentiert. Welche waren diese und wie wurden sie angenommen?

 

Matei Vișniec: Als ich mich 1987 in Frankreich niederließ, erlebte ich eine große Öffnung. Ich fing an, Theater auf Französisch zu schreiben. Dabei entdeckte ich eine Fülle von Theatergruppen, die auf der Suche nach neuen Stücken waren. Im Vergleich zu Rumänien, wo ich in den kommunistischen Jahren ein zensierter Autor war, bedeutete das eine vollkommene Veränderung. Als ich 1990 das Avignon Festival entdeckte, hatte ich eine Offenbarung. Hunderte von Theatergruppen standen im Wettbewerb miteinander, eine ganze Stadt wurde zur Weltszene... Seit 1992 werden jährlich Stücke von mir beim Festival gezeigt, manchmal zwei oder drei... In diesem Jahr waren es sechs verschiedene Inszenierungen, ein echter Rekord. Eines dieser Stücke heißt Clown gesucht. Es ist ein Text, der 1986 in Rumänien entstanden ist. In den letzten dreißig Jahren wurde er in vielen Ländern gespielt. Es ist einer meiner meistgespielten Texte, mit dem ich weltweit gereist bin. Ein anderes Stück, das heuer in Avignon auf dem Programm stand, basiert auf einer Textsammlung und trägt den Titel Wortkabarett. Es handelt sich um kurze Texte, in denen die Wörter... für sich sprechen. Oder besser gesagt, die Wörter erzählen über sich selbst, manchmal machen sie ihre eigene Psychoanalyse. Ich habe diese Texte als philosophische Fabeln über die Sprache geschrieben. Wörter sind manchmal wie Eisberge, wir kennen sie nur oberflächlich, wir sehenˮ nur einen Teil von ihnen (nur die Spitze), während der Rest (ihre Geschichte, ihre aufeinanderfolgenden Veränderungen) geheime Märchen ausmachen.

 

IW: Sie haben unter anderem Stücke über den Kommunismus geschrieben, über den Konflikt im ehemaligen Jugoslawien, über Europa und die Probleme unseres Kontinents. Ich denke vor allem an Occident Express und Hotel Europa. Wie wählen Sie die Themen aus?

 

Matei Vișniec: Ich wurde oft von Theatergruppen, die mit mir zusammenarbeiten wollten, ermutigt, bestimmte Themen anzusprechen. Manchmal ließ ich mich auch von meiner journalistischen Arbeit inspirieren ich arbeite seit 1990 als Journalist bei Radio France Internationale in Paris. Als der Krieg in Bosnien zu Ende ging, schrieb ich 1996 ein Stück über die im Zusammenhang mit diesem Konflikt vergewaltigten Frauen. Das Thema beschäftigte mich lange Zeit. Irgendwann erzählte ich davon einem Pariser Theaterregisseur, der mir sagte: Schreibe schnell das Stück, damit ich es sofort inszeniereˮ. Mit diesem Ansporn ging es blitzschnell. Der Text war in drei Wochen fertig.

Theater ist ein Abenteuer aus menschlichen Begegnungen. Ich habe einmal drei Stücke auf Anfrage der japanischen Gruppe Kaze Theaterˮ aus Tokyo geschrieben. Die Schauspieler und ihr Regisseur fanden sich in meinem Universum wieder, in meiner metaphorischen und manchmal traumartigen Weise, mit dramatischen Situationen umzugehen. Für dieses Theater schrieb ich zum Beispiel ein Stück über Jeanne d'Arc und ein anderes über Hekabe.

 

IW: Sie sind Dramatiker, außerdem Dichter und Schriftsteller, und auch Journalist bei Radio France Internationale. Wie hat diese Tätigkeit Ihre Arbeit als Dramatiker beeinflusst, zum Beispiel in dem Stück Migraaanten oder Wir sind zu viele auf diesem verdammten Boot?

 

Matei Vișniec: Viele Informationen, die ich in das Stück hineingebracht habe, entspringen den Kurzinformationen, die ich bei Radio France Internationale erhalte, aber auch von der europäischen Presse. Andere Geschichten stammen von meinen Reisen in Ländern wie Italien, Griechenland, der Türkei, Tunesien, dem Iran... Der Journalist Matei Vișniec liefert dem Schriftsteller Matei Vișniec häufig Themen. Mit anderen Worten ist der Journalist in mir frustriert von der Tatsache, dass die Dramen dieser Welt ohne Lösungen bleiben, und schlägt daher dem Schriftsteller vor, diese Themen aufzugreifen und sie mit den Mitteln der Literatur, der Dichtung, des Theaters weiterzuführen. Wenn es um so ein großes und dramatisches Thema wie die Migration geht, müssen sich die Künstler mobilisieren. Einerseits, um das Thema gründlich zu verstehen, andererseits um die öffentliche Meinung für die heutigen Dramen der Menschheit zu sensibilisieren. Migration ist ein dauerhaftes Phänomen, und vielleicht hat der dramatischste und widersprüchlichste Prozess noch gar nicht begonnen. Europa steht vor einem großen moralischen Dilemma. Das Theater ist im antiken Griechenland entstanden, gerade weil es ein Ort ist, an dem über Dilemmas debattiert wird. Ich würde sogar sagen, dass die Aufgabe des Theaters nicht diejenige ist, sich mit „Problemenˮ zu beschäftigen. Weil für Probleme Lösungen gefunden werden. Dilemmas haben von Natur aus keine Lösung und verursachen immer Bestürzung und Emotion.

 

IW: Viele Ihrer Stücke sind dem absurden Theater ähnlich. Sie sind poetisch und verwenden eine allegorische, metaphorische Sprache. Migraaanten schockiert durch seinen Realismus. Besonders die Organspendergeschichte ist eine schwere Kost. Wie ist diese Idee entstanden?

 

Matei Vișniec: In diesem Stück gibt es wenig Fiktion. Die meisten Szenen basieren auf echten Tatsachen, die entweder von der Presse, von Zeitzeugen oder von Reportern berichtet wurden. Diese waren vor Ort, um zu sehen, was mit einem jungen Mann passiert, der zum Beispiel den Sudan verlässt, mehrere Länder durchquert, um in die Türkei oder nach Libyen zu kommen und dort in unmenschlichen Lebensverhältnissen warten muss, um eventuell Europa zu erreichen. Ich gebe zu, Realität ist manchmal schrecklicher als unsere Vorstellungskraft.

 

IW: Sie haben sich 1987 in Frankreich niedergelassen und um Asyl angesucht. Betrachten Sie sich als Migrantenˮ?

 

Matei Vișniec: Ich war tatsächlich ein politischer Flüchtling. Ich verließ Rumänien 1987 mit der Überzeugung, dass der Kommunismus in Osteuropa noch weitere Jahrzehnte bestehen würde. Die Geschichte hat jedoch eine fabelhafte Beschleunigung herbeigeführt. 1989 begannen die kommunistischen Regimes in Osteuropa wie ein Kartenhaus zusammenzufallen. Ich war gewissermaßen ein Migrant, aber innerhalb Europas. Als ich in Paris ankam, hatte ich keinen kulturellen Schock, im Gegenteil, ich fühlte mich wie zu Hause. Ich hatte die französische Kultur im Blut. Durch Filme und Bücher wusste ich unermesslich viel über Frankreich. Ich hatte nie das Gefühl, das wahrscheinlich Tausende von Afrikanern oder Migranten aus der arabischen Welt haben, wenn sie nach Europa kommen. Dass sie unseren Kontinent von Grund auf entschlüsseln, manchmal schmerzhafte Entscheidungen treffen und tief verwurzelte Auffassungen aufgeben müssen. Im Vergleich zu den heutigen Migranten war ich gewissermaßen ein glücklicher Migrant.

 

IW: Ihr Schicksal pendeltˮ zwischen Frankreich und Rumänien. Wie beeinflusst dies Ihre Schreibtätigkeit?

 

Matei Vișniec: Nach dem Fall des Kommunismus entdeckte ich eine neue Berufung: Brücken zwischen Frankreich und Rumänien zu bauen. Ich bin oft zu verschiedenen Theaterfestivals nach Rumänien mit französischen Theatergruppen gereist. Ich habe Gruppen aus Rumänien nach Frankreich vermittelt. Seit 1987 schreibe ich Theaterstücke auf Französisch und übertrage sie dann ins Rumänische. Romane und Gedichte schreibe ich in rumänischer Sprache... Ich habe doppelte Staatsbürgerschaft, die Französische und die Rumänische, und gebe zu, dass ich mich sehr wohl fühle, diese doppelte Identität zu haben: eine von Geburt aus, die andere erworben. Meine Stücke kursieren viel in der französischen Theaterszene. Ich hatte die Gelegenheit, mehr als 30 Stücke auf Französisch zu veröffentlichen... Frankreich ist ein wunderbarer Platz, um Theater zu machen. Der Intermittent[i]-Status, den Frankreich geschaffen hat, hätte, meiner Meinung nach, zu einem Modell in ganz Europa werden sollen... Ich betrachte mich als nüchterner Schriftsteller, der von einigen Hauptthemen besessen ist: den Widersprüchen des menschlichen Wesens, der Manipulation durch Ideologie, den Beziehungen zwischen Individuum und Macht. Durch mein Leben zwischen zwei Welten hatte ich die Möglichkeit, diese Themen zu vertiefen und zum Beispiel zu sehen, wie Gehirnwäsche im Westen funktioniert, nachdem ich dergleichen in der kommunistischen Welt erlebt hatte.

 

IW: Sie haben zahlreiche Romane veröffentlicht. Nach Pantoffelartige Liebe, regenschirmartige Liebe jetzt Die letzten Tage des Westens. Warum dieser pessimistische Titel?

 

Matei Vișniec: Der Titel ist eine Anspielung auf die vielen Bücher über den sogenannten Niedergang des Westens, die seit über hundert Jahren geschrieben werden, seit Oswald Spengler. Aber der Westen kollabiert nicht, im Gegenteil, auf die eine oder andere Weise erfuhr er eine globale Verbreitung. Er hat sich über den gesamten Planeten ausgebreitet, hat sein Wirtschaftsmodell überall eingeführt und zum Teil auch seinen Lebensstil. Mein Buch ist eine Sammlung von Kurzgeschichten über diese Themen, über die Faszination der Menschen für den Westen, aber auch über einige selbstmordartige Tendenzen. Fachleute sagen, dass die derzeitigen Produktions- und Verbrauchsmuster Ende dieses Jahrhunderts explodieren werden. Jemand muss den Ton einer Änderung dieses Konsumstils angeben. Wird der Westen diese Rolle weiterhin spielen können, nachdem er alle Exzesse angeregt hat? Diese Themen spreche ich in meinem Buch in einer literarischen Form an, die sich auf die philosophische Fabel bezieht.

 

IW: Ihr neues Stück Über Zärtlichkeit wird derzeit in Bukarest am Theater der rumänischen Dramatiker gespielt. Wie ist dieser Text entstanden? Glauben Sie, dass es noch Platz für Zärtlichkeit in dieser Welt gibt?

 

Matei Vișniec: Ich bin fest davon überzeugt, dass Zärtlichkeit eine Erlösung sein kann. In einer zunehmend brutalen Welt sind Zärtlichkeit und Poesie echte, individuelle und kollektive Zufluchtsorte. Die Inszenierung von Felix Alexa basiert auf mehreren Theatermodulen, auf mehreren unabhängigen Sequenzen, die jedoch einen gemeinsamen Nenner haben: der Drang nach Zärtlichkeit. Die Produktion wird besonders von Jugendlichen geschätzt. Zärtlichkeit kann Wunder bewirken.



[i]Der Intermittent-Status bietet vielen Schauspielern und Fachleuten auf dem Gebiet der darstellenden Kunst (die intermittierend, das heißt mit Unterbrechungen arbeiten) soziale Sicherheit und Arbeitslosengeld, wenn sie keine Projekte haben. Es gibt mehr als 250.000 Personen, die als intermittierende Performer arbeiten (Schauspieler, Regisseure, Bühnenbildner, Techniker, usw.). Wenn sie nachweisen, dass sie zehn Monate lang für 507 Stunden einen Lohn erhalten haben, bekommen sie acht Monate lang einen Arbeitslosenbonus.


(c) Apollonia Bitzan
(c) Apollonia Bitzan

Interview mit Martin Gruber, Leiter des aktionstheater ensemble

von Irina Wolf

(11. November 2018)

 

Die Kunst ist dazu da, eine dritte Frage aufzumachenˮ

 

 Martin Gruber studierte Schauspiel und gründete 1989 das aktionstheater ensemble. Nach dem Heidelberger Theaterpreis 2014 folgte 2015 die Nominierung zum Nestroy-Preis für Pension Europa. 2016 nahm dann Martin Gruber den Nestroy-Preis für die Arbeit Kein Stück für Syrien entgegen. Inzwischen wird die Wiener Fangemeinde der preisgekrönten österreichischen Theatergruppe immer größer. In unserem Gespräch erzählt er über das Konzept seiner Arbeiten, den Vorbereitungen zum 30-jährigen Jubiläum und die Liebe zur anarchischen Kraft des Humors. Dabei lacht er zwischendurch oft und sehr herzlich.

 

Irina Wolf: 2019 feiert das aktionstheater ensemble sein 30-jähriges Jubiläum. Wie kam es dazu, zur Entstehung?

 

Martin Gruber: Ich habe Schauspiel studiert, habe dann das eine oder andere Vorsprechen gemacht, und war nicht entzückt, wie der klassische Theaterbetrieb gelaufen ist. Das war nicht meins. Ich hatte das Gefühl, da geht es oft um irgendwelche organisatorischen Dinge, um welches Stück muss man jetzt machen, um wie das Publikum zu bedienen usw. Damals (1989) war es auch so, dass die Ästhetik nicht unbedingt meins war. Ich wollte ja früher Filmregisseur werden und während der Schauspielschule habe ich mich ins Theater verliebt. Dadurch, dass ich neben der Schauspielschule sehr viele Performances gemacht habe, habe ich danach gesucht, wie funktioniert ein direkter Zugang zum Publikum, was gibt es eigentlich zu erzählen oder was bewegt uns. Ich habe zwar sehr gern gespielt, aber nachdem ich ohnehin immer Regie machen wollte, habe ich mir gedacht, diese Art des „tradiertenˮ Theaters ist nicht unbedingt meins und ich fange gleich selber an. So ist es entstanden. Ich habe ja mit Klassikern begonnen – früher hat man gesagt „gegen den Kamm gebürstetˮ. Da ging es ja um Grundkonflikte. Die Grundkonflikte haben mich interessiert, aber ich habe versucht eine neue Theaterästhetik oder eine neue Erzählweise zu finden, die damit zu tun hat, was ich bei den Performances erfahren habe, eben etwas sehr Direktes.

 

IW: Wenn es um Ästhetik geht, merkt man, dass sich in Ihren Arbeiten mehrere theatralische Mittel zu einem originellen, schönen Ganzen zusammenfügen: minimales Bühnenbild, passende Musik, gut einstudierte Choreografie, assoziative Videoprojektionen. Und natürlich Text. Man könnte von einem „aktionstheater-ensemble-Markenzeichen“ sprechen. Wie ist dieses Konzept entstanden?

 

Martin Gruber: Mir ging es darum, kein Hörspiel auf Stelzen zu machen. Also nicht einfach Inhalte zu bebildern, sondern so zu arbeiten, dass ein non-verbales Mittel letztlich genau so viel aussagen kann wie ein verbales Mittel. Es kann sein, dass die Musik übernimmt, da die Musik einen Zustand besser beschreiben kann. Die Musik spielte für mich immer eine wichtige Rolle; ich war auch vom Tanz inspiriert. Für mich war es sehr wichtig, das schon damals gleichwertig zu behandeln. Letztlich geht man aber trotzdem natürlich vom Inhalt aus, man geht vom Text aus. Manche glauben, dass mir die Textarbeit nicht so wichtig ist, aber die ist mir extrem wichtig. Da wird manchmal stundenlang an einem Satz gefeilt. Das ist überhaupt die größte Herausforderung. Aber, dass diese Bedeutungsträger gleichwertig sind, das war mir sehr wichtig.

Auch im realen Leben sagt man ja, dass es nicht nur darum geht, was Sie jetzt zu mir sagen oder was ich zu Ihnen sage. Es geht auch darum, was ist da für eine Stimmung. Im Jargon heißt es „Subtextˮ, also was liegt dahinter. Und das hat mich immer interessiert. Deswegen liegt auch dieser extreme Fokus auf dem Subtext und was man auslösen will. Die Frage war von vornherein: Was wollen wir eigentlich auslösen und nicht so sehr, wie wir das nur gestalten – das ist natürlich wichtig, das ist keine Frage –, aber wie muss man verdichten und was muss man machen, wenn man etwas Bestimmtes auslösen will.

 

IW: Und was wollen Sie auslösen?

 

Martin Gruber: Wenn wir einen bestimmten Inhalt haben, dann geht es darum, diese Thematik im Publikum auszulösen und nicht so sehr es zu „erklärenˮ. Es geht nicht darum, was man jetzt versucht, edukativ zu beschreiben. Nehmen wir zum Beispiel einen politischen Gehalt wie Xenophobie, dann geht es nicht darum, dass ich eine xenophobe Person auf der Bühne stehen sehe – es kann auch darum gehen, aber das ist für mich nicht das Wichtige –, sondern darum, was ist ein probates Mittel, diesen Diskurs im Betrachter und in der Betrachterin auszulösen. Ich gehe in der Arbeit immer von der Evokation aus: Was löst was aus oder, was kann was auslösen? Und das ist im besten Falle etwas, das keine „fertige Messagesˮ liefert – ich mag keine fertigen Messages –, sondern der Diskurs als solches soll gestartet werden. Das ist der Punkt.

Weil jeder Mensch mit seiner ganz individuellen persönlichen Geschichte ins Theater geht. Wie verdichten wir, dass mehrere Geschichten im Betrachter und in der Betrachterin möglich sind? Was ist das Grundproblem und was tut es mit mir? Es muss nicht in erster Linie eine rein kognitive Information sein. Im Theater geht es nicht darum zu sagen, fünf und fünf ist zehn. Die Kunst ist dazu da, eine dritte Frage aufzumachen. Eine dritte Ebene einzuführen, wo wir eine Möglichkeit haben, die Dinge immer wieder neu zu sehen. Vielleicht Ebenen zu erspüren, die wir nicht beschreiben können.

 

IW: Sie haben Xenophobie angesprochen. Es sind ein paar Themen, die Sie in Ihren Arbeiten durchziehen: Rechtsradikalität, Religion. Dabei spielt Politik eine wichtige Rolle. Wie sehen Sie den Bezug zwischen Theater und Politik?

 

Martin Gruber: Das ist eine gute, wichtige und komplexe Frage im Theater. Denn der reine Agitprop, das ist es nicht. Ich tausche den Begriff der zu Ende definierten Moral aus und nehme stattdessen den Begriff der Haltung. Ich gehe davon aus, dass die Künstlerinnen und Künstler ohnehin eine gewisse Haltung haben. Dass sie jetzt nicht auf die rechte Seite tendieren, das wird jetzt keine Überraschung sein. Aber der Punkt ist der, dass es nicht von vornherein geht, diese Dichotomien aufzustellen, sondern, dass man sagt: Wir haben eine bestimmte Haltung, aber wir gehen nicht damit hausieren, was wir für Patentrezepte haben, sondern wir versuchen, diese Haltung transparent zu machen. Durchaus durch Paradoxien. Ich arbeite sehr stark mit Paradoxien.

Es ist eine Binsenweisheit zu sagen, und trotzdem sage ich es: Theater kann nur politisch sein. Und wenn es sich als unpolitisch geriert, ist es auch politisch, nur eben in eine andere Richtung. In Zeiten wie diesen nichts zu sagen, ist allerdings ein Statement. Als politischer Mensch kann ich ja nur reagieren. Was soll ich denn sonst tun? Und das ist das, was wir permanent tun. Da geht es nicht nur um Politik im Sinne der klassischen Parteipolitik. Es geht darum, was sehe ich im Alltag? Wie wirken sich Stimmungen, die politisch hochgeschraubt wurden, auf das Jetzt aus und vor allem auf den Einzelnen und die Einzelne aus? Das ist ja was mich am Theater interessiert. Wenn wir über die Tetralogie sprechen, wie wirkt sich diese Entsolidarisierung auf den Einzelnen und die Einzelne aus? Oder wie kann sich das auswirken? Es geht immer um subjektiven, ganz persönlichen Bezug.

 

IW: Sie haben die Tetralogie Vier Stücke gegen die Einsamkeit angesprochen, die jetzt im November im Werk-X gezeigt wird. Bei den Titeln treffen Sie eine ganz besondere Auswahl.Gegen die Einsamkeitˮ. Wie ist das zu verstehen?

 

Martin Gruber: Na ja, man könnte, wenn man ehrlich ist, auch „über die Einsamkeitˮ sagen. Aber nachdem wir alle uns gemeinsam im Theater treffen und über die Einsamkeit sprechen, sind es dann, hoffentlich in der Conclusio Stücke gegen die Einsamkeit. Weil wir ja gemeinsam uns unsere Einsamkeit bewusst werden. Und das ist die Möglichkeit der kathartischen oder der paradoxen Intervention, diese Lust zu bekommen, nicht einsam zu sein. Das ist im Prinzip ein Grundmittel des aktionstheater ensemble. Man könnte sagen, dass man diesen ganzen rechtspopulistischen Schwachsinn, den wir jetzt momentan erleben, konditioniert und als paradoxe Intervention so lange feiert, bis wir alle zusammen kotzen können, dass dann eine Sehnsucht nach etwas Besserem entstehen kann - ein dionysischer Akt.

 

IW: Die vier Stücke Immersion, wir verschwinden; Ich glaube; Swing, dance to the right und Die wunderbare Zerstörung des Mannes sind Neuaufsetzungen, Neubearbeitungen. Was ist „neuˮ daran?

 

Martin Gruber: Mir geht es jetzt nicht darum zu sagen, ich muss jetzt alles neu machen. Neu allein ist auch noch nicht gut. Diese Stücke haben vom Publikum viele Reaktionen bekommen, aber neu heißt eigentlich, transparent zu machen, wie die Stücke zusammenhängen. Wir verschärfen, auch weil sich, meines Erachtens, die politische Situation verschärft hat.

 

IW: Dass heißt, die Werke verändern sich andauernd?

 

Martin Gruber: Sie verändern sich permanent. Das ist mir auch wichtig. Wiederaufnahmeproben sind keine Wiederholungen. Ich mag keine Wiederholungen. Theater als Wiederholung ist ganz schrecklich. Wenn man sich daran erinnert, wie man es gestern gemacht hat, dann hat man verloren. Es muss aber nicht unbedingt der Text neu sein, es geht immer um den Moment, es geht immer um das Direkte. Es passiert jetzt und das muss bewusst sein. Und da es jetzt passiert, muss ich jetzt den Grund finden, warum ich was sagen will.

 

IW: Um etwas auszulösen.

 

Martin Gruber: Ganz genau. Wenn ich es nicht sagen will, wenn ich nur noch „meine Rolle wiederholeˮ, dann wird das Publikum das spüren. Ich bin hundertprozentig davon überzeugt.

 

IW: Der Text. Sie haben gesagt, manchmal arbeiten Sie an einem Satz stundenlang. Es heißt ja auch in den Programmheften, dass der Text gemeinsam mit dem Ensemble erarbeitet wird. Wer hat aber die zündende Idee?

 

Martin Gruber: Ich habe einen bestimmten Ansatz. Und auf das hin wird besetzt. Welche Konstellation könnte diese Thematik am besten abdecken. Ich gehe ja nicht von Rollen aus, weil es sie gar nicht gibt, sondern ich gehe von Ensembles aus. Das ist die Grundidee. Am Anfang gibt es nicht einmal einen Satz. Und dann fange ich an Fragen zu stellen. Natürlich wissen die Schauspielerinnen und Schauspieler (mit manchen arbeite ich schon sehr lange, mit Susanne Brandt zum Beispiel), jetzt geht es in eine bestimmte Richtung. Aber es geht immer wieder darum, sich neu zu finden. Und deswegen arbeite ich mit Fragen. Die Fragen lenken in eine bestimmte Richtung. Das ist aber nicht manipulativ, weil die Leute ja wissen, in welche Richtung es gehen soll. Es wird thematisiert.

Und dann ist ein Wust an Material, der da entsteht. Es wird alles abgetippt. Manchmal sind es Kilos. Dann nehme ich zum Beispiel zehn oder zwanzig Seiten, die spannend sind, und da machen wir weiter. Dann frage ich wiederum zu diesen Sätzen. Sehr oft diktiere ich während den Proben, ich sage „das kommt reinˮ, fünf oder zehn Gegensätze. Und dann ist wieder ein Urmaterial da. Und so entsteht die Komposition. Es geht um Verführung, um Rhythmik. Es geht um Musikalität, vor allem um Subtext. Analog zu dem, was ich vorher gesagt habe: Was wird ausgelöst oder was kann ausgelöst werden? Das heißt, es sind Verdichtungen und Geschichten im narrativen Sinn. Es ist nicht eine Geschichte, sondern es sind Geschichten, die ineinander verwoben werden. Man kann sich das vorstellen wie eine Collage. Und dann entsteht auf einer Meta-Ebene eine Geschichte im Betrachter und in der Betrachterin.

 

IW: Wie steht es mit der Choreografie? Während Sie schreiben, sehen Sie schon die Bewegungen?

 

Martin Gruber: Nein. Ich beobachte die Leute. Ich schau zum Beispiel, wie geht er? Dann probieren wir das Eine oder Andere. Das ist ganz verschieden. Bei Swing, dance to the right war es eindeutig ein Swing-Schritt. Es war ein Swing-Lehrer da. Das habe ich dann aber zerstört. Ich habe also die Grundlage vom Swing-Schritt genommen und habe dann den Performern gesagt, sie sollen das vier Mal so langsam machen. Da ist der Körper viel amorpher und dann geht man rein. Ich verforme also den Grundschritt, genauso wie den Text. So war der Swing nur noch die Idee und es kommt ein theatralisch funktionierendes choreografisches Element rein. Ich nehme diese Fragmente her und baue sie zusammen, schaue, was ist spannend.

 

IW: Spannend ist ein gutes Stichwort für Ihre Arbeiten. Hinzufügen würde ich humorvoll. Humor und Politik, wie spielt das zusammen?

 

Martin Gruber: Manchmal ist es die einzige Möglichkeit, zu reagieren auf das was passiert. Das ist das Eine. Das Andere ist: Ich liebe die anarchische Kraft des Humors. Jedes totalitäre System, jedes reduzierte System hat Angst vor Humor. Weil der Humor feste Ideologien zerstört. Humor zerstört das vermeintlich Absolute, das vermeintlich Richtige. Er macht es auf eine sinnliche Art und Weise kaputt. Und diese Zerstörung mag ich. Das ist kreativ. Da entsteht nachher was anderes. Der Humor öffnet uns auch. Wenn ich lachen kann, bin ich offen. Dann habe ich keinen Schutz mehr. Und da es im Theater um Verführung geht, haue ich genau dann rein. Das hat mit Rhythmik zu tun. Aber noch einmal, es gibt nichts Schöneres als das Lachen. Das ist etwas Wunderbares. Bei allem politischen Wahnsinn, sollten wir das nicht vergessen. Wenn es nur noch darum geht, Missstände aufzuzeigen, halte ich das für eine Arroganz. Weil ich mich absentiere und sage: „Ihr macht was falsch und ich sage Euch, was richtig istˮ. Wir sind alle ein bisschen daneben. Es ist spannend, bei sich anzufangen. Ich glaube, dass das Publikum das mag. Weil es ausatmen kann. Das ist ein Anfang.

 

IW: Sie haben inzwischen schon eine Fangemeinde. Gibt es Unterschiede zwischen dem Vorarlberger und dem Wiener Publikum?

 

Martin Gruber: Eigentlich nicht mehr. Es war früher anders. Ich habe das früher anders empfunden. Früher war dieser Großstadt-Provinz-Gap spürbar. Jetzt nicht mehr, weil Menschen viel mobiler geworden sind. Wir sprechen eine gewisse Klientel an, das muss man dazu sagen. Es ist auch so, dass in Vorarlberg das Rheintal eine „Tendenzˮ zum Urbanen hat. Es ist ein Einzugsgebiet. Insofern passiert vom Sozialen her was anderes. Und das Publikum ist sehr heterogen. Wir haben in Wien durchaus auch bürgerliches Publikum. Was mich freut. Wir haben klassisches, auch intellektuelles, älteres Theaterpublikum und genauso ganz junge Leute, unter zwanzig, die regelmäßig kommen. Das hat sich eigentlich massiv verjüngt in den letzten Jahren. Das freut mich sehr.

 

IW: Bereiten Sie zum Jubiläum 2019 was Spezielles vor?

 

Martin Gruber: Ja. Die neue Produktion heißt Wie geht es weiter?. Passt irgendwie nach 30 Jahren. Der Untertitel heißt Die gelähmte Zivilgesellschaft. Ein Abend über den eigenartigen Rückzug ins Biedermeier der sogenannten Progressivenˮ, den ich meine zu spüren. Darüber möchte ich mich schon ein bisschen auslassen. 


über das Internationale Festival für das Junge Publikum 2018, Iasi, Rumänien: Katzen, Clowns und ein Schäfchen namens Miorița, im Aurora-Magazin (7. November 2018)


Iran - Land der vielen Gesichter, im Aurora-Magazin (11. Oktober 2018)


Von Gespenstern und Löwen, im Aurora-Magazin (20. August 2018)


Auf zur fröhlichen Männerzerstörung! im Aurora-Magazin (1. August 2018)


Spiel, Spaß und jede Menge Arschlöcher im Aurora-Magazin (14. April 2018).


über das Internationale Theatertreffen 2017 in Klausenburg im Aurora-Magazin (17. Februar 2018).


über die Internationale Bukarester Theaterplattform 2017 im Aurora-Magazin (17. Januar 2018).


über das rumänische Nationaltheater-Festival 2017 im Aurora-Magazin (15. Dezember 2017).


über das Internationale Festival für das Junge Publikum 2017, Iasi, Rumänien, im Aurora-Magazin (23. November 2017).


Interview mit Thomas Perle: "Ich möchte den Frauen etwas zurückgeben in dieser männerdominierten (Theater-)Welt", in: Spiegelungen. Zeitschrift für Kultur und Geschichte Südosteuropas, S. 245 - 250, Heft 1.17 (IKGS, Verlag Friedrich Pustet, 2017).


über das Festival delle Colline Torinesi 2017, im Aurora-Magazin (5. Juli 2017).


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Nestroys "Coming Out of the Dark" in Schwechat
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Theater als politischer Verhandlungsort. Österreich / Rumänien - Kontexte und Beziehungen, in: Schreiben als Widerstand. Elfriede Jelinek & Herta Müller, Pia Janke & Teresa Kovacs (Hg.), S. 423 - 438, Praesens Verlag, 2017.

 


Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit (Übersetzung aus dem Rumänischen des Kurzstückes "Adevarul si numai adevarul" von Mihaela Michailov), in: Theater der Zeit, S. 69 - 70, Heft Nr. 3, März 2017.


über das rumänische Nationaltheater-Festival 2016 im Aurora-Magazin (13. Dezember 2016).


 Eine gefühlvolle Zeitreise in die Vergangenheit

  (2. Dezember 2016)

 

        „Tolle Location mit Wiener Schmankerln“ so die Bezeichnung des Cafés Benno im Internet. Kaum im urigen Lokal auf der Alser Straße 67 angekommen, denke ich mir, dass ich am falschen Ort bin. Ein Theaterstück hier aufzuführen, erscheint mir unmöglich. Doch dann entdecke ich den Partyraum im Keller. Im kleinen, intimen Zimmer sind etwa 25 Sessel aufgestellt. Und da ist tatsächlich auch eine Bühne: Ein mit rotem Samt ausgestattetes erhöhtes Podest, auf dem sich zwei Sessel und ein Tisch mit vielen Büchern befinden. Ein Teil eines Außengeländers – eine geschickte Andeutung an vergangene Zeiten – vervollständigt das „Bühnenbild“, das einer Malerei gleichkommt. Mit solch feinen Details überrascht Regisseur Thomas Perle schon vor Beginn der Aufführung

         Vita & Virginia heißt die einstündige Produktion des Vereins SpielBAR, die über die große Liebe zwischen Virginia Woolf und Vita Sackville-West erzählt. Denise Teipel – ihre Ähnlichkeit zu Virginia Woolf ist verblüffend – und Cristina Maria Ablinger entpuppen sich als Idealbesetzung. In der einfühlsamen Regie von Thomas Perle porträtieren sie beide Figuren präzise, prägnant, pointiert. Aus den detailgetreuen Kostümen lassen sich weitere wichtige Merkmale der guten Inszenierung ableiten. Brief für Brief schreiten die Schauspielerinnen voran in ihrer Beziehung, die zwei Jahrzehnte gedauert und einen starken Einfluss auf das Leben der beiden Frauen hinterlassen hat. Der nach Tagebüchern und Briefen entworfene Text von Eileen Atkins (Deutsch von Friederike Roth) beleuchtet die große Zuneigung – auch sexueller Natur – und gegenseitige Bewunderung, die die Freundschaft der zwei geprägt hat, ebenso wie die politische Situation im Europa des 19. Jahrhunderts. Zum gelungenen Abend tragen nicht zuletzt auch die Effektbeleuchtung und Soundtechnik bei. Großes Lob der Dame, die am Mischpult mitgewirkt hat (sie ist übrigens auch diejenige, die die Karten verkauft).

          Eine kleine aber feine Aufführung!


über das Internationale Theatertreffen 2016 in Klausenburg im Aurora-Magazin (2. November 2016).


über das Festival delle Colline Torinesi 2016, im Aurora-Magazin (5. September 2016).


Buchrezension zu Der Scheiterhaufen von György Dragomán im Aurora-Magazin (26. Juli 2016).


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Kraftvoll, imponierend und mit viel Spielspaß
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über das Festival für Neues Theater in Arad im Aurora-Magazin (20. Juni 2016).


über das Theaterlaboratorium Bukarest im Aurora-Magazin (12. Mai 2016).


über die Produktion Wahnsinnsfrauen des Grazer Theater Asou im Aurora-Magazin (5. März 2016).


über neue Publikationen der rumänischen Theaterszene im Aurora-Magazin (28. Januar 2016).


über das rumänische Nationaltheater-Festival 2015 im Aurora-Magazin (2. Dezember 2015).


über das Internationale Festival für das Junge Publikum 2015, Iasi, Rumänien, im Aurora-Magazin (2. November 2015) und im Observator Cultural (in rumänischer Sprache).


HAKOAH WIEN Ensemble (c) Lupi Spuma
HAKOAH WIEN Ensemble (c) Lupi Spuma

Die verbindende Kraft des Fußballs

(22. September 2015)

 

Drei grüne Tribünen, obenauf drei grüne Sessel. Dahinter eine grüne Wand mit weißen Markierungen: ein Teil eines Fußballfeldes, der auch als Projektionsfläche fungieren wird. Die darauf abgebildeten Zeichnungen dienen als Anweisungen zum Selberherrichten des Bühnenbildes für die Schauspieler sowie als dramatischer Erzählfaden für die Zuschauer. In Windeseile verwandeln sich Tribünen in Kisten, Tische oder Betten. Mit diesen einfachen Mitteln erzählt Yael Ronen die Geschichte des jungen Vizeleutnants Michael Fröhlich, der aus Israel nach Wien geflogen wird, um durch Vorträge das angeschlagene Bild seiner Heimat zu verteidigen. Doch es sollte anders kommen. Zumal er gleich beim ersten Auftritt Michaela Aftergut trifft, eine Österreicherin mit jüdischen Wurzeln, wie sich letztendlich herausstellen wird. Was die beiden miteinander verbindet, sind ihre Großeltern: Ein von Michaela gefundenes Foto deutet auf die Bekanntschaft zwischen ihrer Großmutter und Michaels Großvater, ein Spieler der legendären Fußballmannschaft des jüdischen Sportklubs Hakoah Wien, hin.

            Für beide beginnt nun eine Reise auf Identitäts- und Heimatsuche. Michael fühlt sich immer wohler in Wien und versucht, sich vor seiner Aufgabe zu drücken. Dabei verstößt er gegen die Ideale seines Großvaters, der während der Nazizeit nach Palästina emigrierte und zur Schaffung des israelischen Staates beitrug. Doch Michael gehört einer anderen Generation an. Wir fangen an, uns zu fragen, wie lange wir noch für eine Idee kämpfen sollen, sagt der Hauptdarsteller Michael Ronen während der Improvisationsübungen, von denen ein Teil im Programmheft abgedruckt ist. Denn der Text ist aus der Zusammenarbeit zwischen Regisseurin und Ensemblemitgliedern entstanden.

            Aber auch allgemeine Themen wie eine nicht funktionierende Ehe werden auf die Bühne gebracht. Während Michaela von ihren Identitätsfragen geplagt ist, schaut ihr Mann gelangweilt auf sein Mobiltelefon. Diese von einem Sport-Reporter kommentierte stumme Eheszene entpuppt sich als genialer Regieeinfall. Ein weiteres Problem ist, dass sich Michael in Michaela verliebt. Ideenreich, frisch und originell zeigt sich die Inszenierung, zumal Michael auf den Geist seines Großvaters trifft, der ihm hilfreiche Anweisungen zum Umgang mit Frauen gibt.

            Die teilweise auf Hebräisch gesprochene und mit deutschen Übertiteln versehene Produktion besticht durch ein einfaches, funktionelles Bühnenbild und eine geschlossene, sehr gute Ensembleleistung. Hierbei ist vor allem die glänzende Darbietung des Hauptdarstellers Michael Ronen (Bruder der Regisseurin) hervorzuheben. Nicht zuletzt tragen auch die auf die beiden Jahrhunderte perfekt abgestimmten Kostüme, für die Moria Zrachia verantwortlich zeichnet, zum Erfolg der Inszenierung bei.

            Diese erste Übernahme der neuen Volkstheater-Intendantin Anna Badora aus ihrer Grazer Direktionszeit wirkt spritzig, energiegeladen und humorvoll. Yael Ronen ist eine beachtliche Inszenierung gelungen. Nicht umsonst wurde die Produktion 2013 mit dem Nestroy für die beste Bundesländer-Aufführung ausgezeichnet. Dass der Saal zur Hälfte leer blieb, ist unerklärlich, umso mehr als der Zuschauerraum mit der neuen gehobenen Tribüne viel an Seh- und Hörpotential gewonnen hat. Ein kurzweiliger, genussreicher Abend, der von den anwesenden Zuschauern zu gutem Recht stark umjubelt wurde.


über die 43te Auflage der Biennale von Venedig, im Aurora-Magazin (2. September 2015) und in Orizont Nr. 8/2015 (in rumänischer Sprache)


über die Inszenierung von Marco Martinellis Wassergeräusche in Mons, Kulturhauptstadt Europas in 2015, im Aurora-Magazin (6. August 2015) und in Orizont Nr. 7/2015 (in rumänischer Sprache)


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Schwungvolles Potpourri bei den Schwechater Theaterg'schichten
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über die Wiener Theaterszene, in Hystrio,

weitere Artikel in der italienischen Theaterzeitschrift in Drukformat (Zusammenarbeit seit 2015).


über das Festival delle Colline Torinesi 2015, im Aurora-Magazin (1. Juli 2015).


über das Festival der rumänischen Dramatik 2015, im Aurora Magazin (29. Juni 2015),

weitere Artikel in der österreichischen Online-Kulturzeitschrift (Zusammenarbeit seit 2007).


über das rumänische Nationaltheater-Festival 2014 (in rumänischer Sprache), in Observator Cultural,

weitere Artikel in der rumänischen Kulturzeitschrift (Zusammenarbeit seit 2008).


über die Wiener Festwochen 2014 (in rumänischer Sprache), in Teatrul Azi,

weitere Artikel in der rumänischen Theaterzeitschrift in Druckformat (Zusammenarbeit seit 2009).


Die Exotik der Gegenwart (Theaterlandschaft Republik Moldau),

in Nachtkritik (August 2009).


Spiel mit dem Leben. Wie Rumänien das Theater neu entdeckt,

zweisprachiger Schwerpunkt im Aurora-Magazin (Dezember 2008).