(c) Bettina Frenzel
(c) Bettina Frenzel

 Atomkraft, bitte nicht!

 (16. September 2021)

 

Adaption für die Bühne von Swetlana Alexijewitschs Buch. Mit Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft eröffnet das Werk X-Petersplatz seine Theatersaison zum Klimaschutz und zur Nachhaltigkeit unseres Planeten. Der Atomunfall vor 35 Jahren war die bisher größte je dagewesene Nuklearkatastrophe der Menschheitsgeschichte. Bis heute sind seine Auswirkungen noch spürbar. Zugleich markiert der Super-GAU von Tschernobyl den Versuchsbeginn, aus der Atomkraft auszusteigen.

Aus den über 500 Interviews, die die Schriftstellerin und 2015 weißrussische Literaturnobelpreisträgerin in ihrer Heimat und in der Ukraine mit Zeitzeugen führte, entstand eine anschauliche Collage der Überlebenden der Reaktorkatastrophe. Einen Teil der Porträts bringt Alireza Daryanavard auf die Bühne in der gleichnamigen Produktion von Theaterkollektiv Hybrid in Kooperation mit Werk X-Petersplatz und dem Theaterverein Odeon. Es ist eine Zusammensetzung von Monologen, gemixt mit einer vom Band kommenden Stimme. Zu Wort kommen ein Bauer, eine Mutter mit einem sterbenden Kind, ein zurückgelassener Vater, der seinen Kummer in Alkohol ertränkt, eine Frau, die im Wald zurückgezogen lebt und eine, die verseuchte Tiere jagt.

Thematisch drehen sich die eindringlichen Geschichten um dasselbe, nämlich den Wiederaufbau des Lebens im Sperrgebiet sieben Jahre nach dem Nuklearunfall. Dort gibt es nicht mehr viel, unter anderem auch keine Läden. Hervorstechend ist die Figur des leichtfertigen Händlers, der den Menschen Bücher, Zucker und andere Waren bringt. Im Austausch für seine Produkte erhält er aus geplünderten Häusern ergatterte Pelzmäntel, erschossene Tiere oder Kartoffelsäcke, in denen davor die Knollen nach der Strahlungsmenge sortiert wurden: Die mit mehr Strahlung sind für diejenigen Menschen bestimmt, „die nicht mehr lange zu leben haben“.

Alireza Daryanavard gelingt eine solide Bühnenumsetzung, zu dessen Erfolg in großem Maße die SchauspielerInnen beitragen (Grace Marta Latigo, Simonida Selimovic, Anne Wiederhold, Thomas Frank, Sebastian Pass, Morteza Tavakoli und das Kind Lorenz Pell). Schon beim Betreten des Saales im Wiener Odeon-Theater herrscht Endzeitstimmung. Ein Halbdutzend in weiße Schutzanzüge gekleidete Personen irren im Raum herum. Alle tragen Gasmasken und Stirnlampen. Einige besprühen die in Plastik verpackten Säulen, andere wiederum messen mit Geigerzähler ähnlichen Geräten die Strahlendosis. Einer untersucht sogar meine Schuhe, denn ich sitze in der ersten Reihe. Aus den Lautsprechern surrt, knistert und brummt es. Auf der düsteren Bühne sitzt ein Kind auf einer Schaukel und schaukelt hin und her. Es trägt ebenfalls eine Gasmaske. Als Zuschauer erlebt man ein Gefühl der Beklemmung.

Bühnenbildnerin Geraldine Massing hat die Sperrzone geschickt in Szene gesetzt. Die in mehrere Areale unterteilte Bühne gibt das Leben „im Reich der Toten“ detailgetreu wieder und stellt gekonnt ein Gefühl der Surrealität her. Besonders die zentral platzierte Badewanne und der Wäscheberg, an dem eine Frau arbeitet, stechen hervor. Da wird sich letztendlich auch eine der eindrucksvollsten Szenen abspielen: Nachdem die Frau Selbstmord in der Badewanne begeht, wird diese mit einer Tür bedeckt und darauf die Leiche des Kindes gelegt. Solche Bilder beinhalten eine klare Botschaft und bleiben nachhaltig im Gedächtnis.

Doch der im Iran geborene und seit 2014 in Wien lebende Regisseur belässt es nicht dabei. Gegen Ende wird nach kurzem Bühnenumbau plötzlich Japanisch gesprochen – ein Hinweis auf die Kernschmelze 2011 im Atomkraftwerk von Fukushima. Als ob das nicht anschaulich genug gewesen wäre, gibt es abschließend noch eine Mini-Demo mit Plakaten für die Abschaffung der Atomkraft. Jedoch, Bilder sagen mehr als tausend Worte – diese alte Weisheit gilt auch für Daryanavards Inszenierung.


(c)Bibi-Sara-Kali_Romano-Svato-in-Kooperation-mit-WERK-X-Petersplatz_2021
(c)Bibi-Sara-Kali_Romano-Svato-in-Kooperation-mit-WERK-X-Petersplatz_2021

Am Fest der Roma-Schutzpatronin ein österreichisch-serbisches Familienepos

(27. Juni 2021)

 

Wie sich der Kolac dreht, soll sich all das Schlechte ins Gute drehen und wandeln“ – mit diesen Worten fasst Tante Dragoslave den Kerngedanken der wichtigsten Feier der Romn*ja im serbischen Ort Boljevac zusammen. Am „Fest der Tante“, auch Bibijako Djive genannt, wird die mythologische Figur der Bibi Sara Kali, Schutzpatronin der Roma, geehrt. Dass dieses am 31. Januar begangene Fest mit der Befreiung der Roma-Überlebenden 1944 aus dem KZ übereinstimmt, ist kein Zufall, hat doch Simonida Selimović für das Theater-Film-Projekt Bibi Sara Kali im Vorfeld gründlich recherchiert. Gemeinsam mit dem syrischstämmigen Autor Ibrahim Amir entwickelte die Schauspielerin, Musikerin und Roma-Aktivistin ein Stück, in dem die Roma-Kultur und die Situation von Roma-Frauen beleuchtet werden.

Was aber ist ein Kolac? Diese Frage stellt sich auch Tanja (Ivana Nikolić), die jüngste der drei Töchter, die zusammen mit ihrer Mutter Jelena vor gut dreißig Jahren Serbien für Österreich verlassen hatten. In ihrer neuen Heimat hielt Jelena ihre Identität als Romni geheim, um „überleben zu können, ohne vom Stehlen beschuldigt zu sein“. Zu ihrer Familie in Serbien hatte sie kaum noch Kontakt. Umso verwunderlicher ist es, dass sie nach drei Jahrzehnten aufbricht, um in Boljevac noch einmal den Bibijako Djive zu feiern. Es sollte ihr letztes Fest sein, denn anschließend stirbt sie. Somit treffen die drei Töchter Snežana (Sandra Selimović), Melisa (Simonida Selimović) und Tanja in Serbien ein, um ihre Mutter zu beerdigen.

So weit die Ausgangslage. In den eineinhalb Stunden Spielzeit tauchen zahlreiche Familienkonflikte auf. Charaktere und Ansichten prallen aufeinander. „Bibi Sara Kali“ wechselt stetig zwischen Tragik und Komik, zwischen schmerzhaften Erinnerungen an Diskriminierungen in den Kindheitstagen vor der Migration und an die schwierige erste Zeit in Wien, erzählt von Identitätsverlust, Rassismus und Nationalismus. Der in Boljevac lebende Cousin Marcos ist besessen von der Vorstellung einer besseren Zukunft in der EU. Er sorgt schon für Serbiens Beitritt vor, indem er sein Landstück fortwährend erweitert und hofft auf eine Wertsteigerung, wenn es dann „EU-Boden“ sein wird.. Wenn es hart auf hart kommt, scheut er nicht davor zurück, seinen Besitz mit dem Gewehr zu verteidigen.

Mit viel Humor beschreiben Simonida Selimović und Ibrahim Amir, welche Regeln während der Vorbereitungen für die Beerdigung zu befolgen sind. Dass die drei Schwestern mit unzähligen unbekannten Traditionen und Ritualen konfrontiert werden, ist nicht verwunderlich. Unter anderem weiht sie Tante Dragoslave ein, dass die Zahl der am Leichenschmaus Beteiligten eine ungerade sein soll – ein Gesetz, das man einfach so hinnehmen muss. Snežanas Ehemann Taiye wäre einer zu viel. Sukzessive machen die einander seit Jahren entfremdeten Geschwister unerwartete Entdeckungen über die Vergangenheit der Mutter, aber auch über sich selbst. Vor allem dann, wenn auf Jelenas letzten Wunsch hin Melisa das Zubereiten des Kolac übernehmen soll. Um die Tradition des Festtags der Bibi Sara Kali zu erhalten, wird das Backen des speziellen Brotes immer von jemandem anderen ausgerichtet. Dass dies der mittleren Schwester zugesprochen wird, kommt bei der ältesten Tochter Snežana überhaupt nicht gut an. Eifersüchtig fühlt sie sich von der Mutter im Stich gelassen. „113 Kartoffeln, 5 kg Zwiebeln und 137 Knoblauchzehen schälen“, sollen ihr Anteil an der Vorbereitung des Leichenschmauses sein. Denn in Serbien feiert man ausgelassener. Am Ende führen Simonida Selimovićs Recherchen zu der hinduistischen Göttin Kali, einer Figur, die auf die Schattenseiten verweist, gilt sie doch als Göttin des Todes und der Zerstörung, aber auch der Erneuerung.

 

Bei Regisseurin Nina Kusturica setzt die Handlung am Busbahnhof in Wien Erdberg ein. Doch dann wechselt die Kamera (Marie Zahir) von der realitätsbezogenen Anschaulichkeit in den Theaterraum des Werk X-Petersplatzes. Halbdurchsichtige Vorhänge verleihen dem Ambiente einen heimeligen und behaglichen Charme. Außerdem erlauben sie Corona-konforme Berührungen oder lassen sich leicht in ein Kopftuch verwandeln. Die vom rumänisch-österreichischen Pianisten Adrian Coriolan Gaspar komponierte Musik unterstreicht die Stimmung jeden Moments wundervoll; die subtil eingesetzte Beleuchtung erzeugt eine mysteriöse Atmosphäre. Auf grandiose Film- und Theatereffekte wird verzichtet. Obgleich wichtige sozialpoltische Themen angesprochen werden, wirkt das Ganze verspielt charmant und poetisch raffiniert verpackt. „Bibi Sara Kali“ besticht durch präzise Darsteller, einen klugen Text und eine bemerkenswerte Umsetzung.

Die Produktion, die als Online-Stream des Werk X-Petersplatzes am 15. Juni Premiere feierte, wird noch bis 20. Juli auf der Webseite von Romano Svato, des 2010 von den beiden Selimović Schwestern gegründeten Roma-Theatervereins (www.romanosvato.at), zu sehen sein. Tickets ab € 5.

 

(siehe auch Aurora-Magazin.at vom 23.07.2021)


(c) Alexander Gotter
(c) Alexander Gotter

Verbrechen aus Ruhmsucht

(14. Februar 2021)

 

„Ich schaue mir den Rücken der Leute an und stelle mir vor, wie sie fallen würden, wenn ich auf sie schießen würde“ – so denkt ein Amokläufer. Aber was bringt jemanden dazu, andere Menschen umzubringen? Den Versuch einer Reise zu den Motiven eines solchen Tobsüchtigen unternimmt der Philosoph Jean-Paul Sartre in seiner Erzählung „Herostrat“. Darin geht es nicht um den altgriechischen Brandstifter Herostratos, der vor zweitausend Jahren lebte und durch die Zerstörung des Artemis-Tempels von Ephesus, eines der sieben Weltwunder der Antike, zu unsterblicher Berühmtheit gelangen wollte. Bei Sartres Protagonisten handelt es sich um Paul Hilbert, einen Angestellten, der in einer Handelsfirma arbeitet und allein in einer Pariser Wohnung im sechsten Stock eines Wohnhauses lebt. Wobei die Höhe hier von Bedeutung ist. „Die Menschen muss man von oben sehen“, mit diesem Satz beginnt Hilbert seine Geschichte. Diese Höhe versetzt ihn in den Stand, Menschen aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, was ihm ein Gefühl der Überlegenheit vermittelt.

Die Erzählung ist 1939 geschrieben worden, doch ist sie aktueller denn je. Paris, Brüssel, London, Halle, Maelbeek und vor ein paar Monaten Wien. Ein „Oaschloch“, ein Mann, fast immer ist es ein Mann, der das Bedürfnis hat, ein Massaker anzurichten. Doch in Kai Krösches Dramatisierung von Sartres Kurzgeschichte, die Anfang Februar im Werk X-Petersplatz gezeigt wurde, wird der Täter von einer Frau verkörpert. Schauspielerin und Performerin Victoria Halpert ist Paul Hilbert. Sie trägt einen weißen Overall. Es fehlt nur noch die Maske und man könnte meinen, Victoria Halpert wäre ein im Kampf gegen das Coronavirus engagiertes Sanitätspersonal. Eine geschickte Täuschung, die von Anfang an für Aufmerksamkeit sorgt.

Bis auf die weibliche Darstellerin bleibt Regisseur Kai Krösche der Erzählung treu. Victoria Halper erzählt, wie Paul Hilbert eines Tages einen Revolver erwirbt und diesen in seiner Hosentasche trägt, wenn er über die Pariser Boulevards flaniert. Allmählich empfindet er den Zwang, von Zeit zu Zeit nach dem „Gegenstand“ zu tasten. Und eines Abends, als er sich aufmacht, um wie gewöhnlich nach einer Prostituierten zu suchen, kommt ihm der Gedanke, auf Menschen zu schießen. Seitdem Hilbert diesen Entschluss gefasst hat, geht er nicht mehr ins Büro. Bald wird er entlassen. Seine freie Zeit nutzt er, um einen Brief zu entwerfen, von dem er hundertzwei Kopien anfertigt, die er an genauso viele Schriftsteller schickt, um sie darin über sein Vorhaben zu informieren: „Sicher sind Sie neugierig, nehme ich an, zu erfahren, wie ein Mensch aussieht, der die Menschen nicht liebt. Nun – so einer bin ich, und ich liebe sie so wenig, dass ich sogleich ein halbes Dutzend von ihnen töten werde. Vielleicht werden Sie sich fragen: warum nur ein halbes Dutzend? Mein Revolver fasst nur sechs Patronen“ – fünf davon sind für Passanten, die ihm begegnen werden, die sechste Kugel wird er vielleicht sich selbst verpassen, um einer Verhaftung zu entgehen. Ist die Entlassung eines der möglichen Motive für das Verbrechen von Paul Hilbert? Sartres Täter fühlt sich seiner Umgebung entfremdet. Er sucht etwas Bestimmtes, um die Blicke auf sich zu lenken, womit er Stolz empfinden kann, das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.

Victoria Halper versteht es hervorragend, Paul Hilberts geistige Verwirrung und gestörte Persönlichkeit widerzuspiegeln. Sie entpuppt sich als Meisterin der Verwandlung, vor allem in der Szene mit der Prostituierten, einer reglosen Puppe. Paul Hilberts Verhältnis zu Frauen ist gestört. Er verlangt von ihnen, vor ihm entkleidet im Zimmer auf und ab zu gehen, bis er in seine Hose ejakuliert. Der intime Verkehr mit einer Frau lässt ihn befürchten, „bestohlen worden zu sein“. Es ist nicht nur das Make-Up, das verstörte Gesicht, das Hilberts Neurose anschaulich macht. Halpers Stimme, ihre gesamte Körperhaltung sind überzeugende Beweise von der Neigung des Protagonisten zum Morden.

Dazu kommen noch eine Reihe verstörender Visionen. Während im Hintergrund eine diffuse Masse von nackten, gesichtslosen Frauen sich profiliert, werden immer wieder Textteile und Videos von Bombenangriffen (Sartres Erzählung ist kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erschienen) auf die durchsichtige Leinwand, die das Publikum von der Bühne trennt, projiziert. Verantwortlich für die Visuals zeichnen Matthias Krische und Kai Krösche. Den beiden gelingt es, den schmalen Grat zwischen Gut und Böse souverän darzustellen. Sorgfältig ausgewählte Musik unterstreicht die Konfliktsituation und weckt Emotionen. Nicht zuletzt erinnert das nüchterne Bühnenbild an die Wüste der Zerstörung, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hat: Im starken Kontrast mit der umgebenden Dunkelheit stehen mittig auf der Bühne ein gedeckter Esstisch, sechs Stühle und versteinerte Menschen – alle leuchten in reinem Weiß. Es wirkt, als wären die Menschen im letzten Moment ihres Lebens erstarrt (Raum: Matthias Krische).

Gegen Ende schreitet Victoria Halper zum Wiener Graben hinaus. In einer Hand hält sie eine Videokamera, in der anderen den Revolver. Welche Passanten sie auswählen wird, sei hier nicht verraten. Es sei nur so viel gesagt, dass alle unverletzt bleiben. Kai Krösche ist eine außergewöhnliche Bühnenumsetzung von „Herostrat“ gelungen. Dass die Produktion als interne Voraufführung im Theatersaal des Werk X-Petersplatz unter strikter Einhaltung der Corona-Maßnahmen überhaupt gezeigt werden konnte, lässt einen Hoffnungsschimmer aufkommen, dass der Theaterbetrieb dennoch zeitnah wieder aufgenommen werden kann.

(auch auf Aurora-Magazin.at, 27.05.2021)