(c) Luca Del Pia
(c) Luca Del Pia

Rotes Meer der Liebe

(29. Oktober 2022)

 

Was kann ein Mensch unter seinen Mitmenschen tun, wenn nicht lieben? Lieben und vergessen, auch unzureichend und unvollkommen lieben, aufhören zu lieben, lieben? Lieben, was das Meer an Land bringt, lieben, was es verbirgt und was in der Meeresbrise Salz oder Liebessehnsucht oder schlichte Angst ist? Das Unfreundliche lieben, das Ungeschliffene, eine blumenlose Vase, einen eisernen Boden, einen Raubvogel. Das ist unsere Bestimmung: grenzenlos zu lieben. Sogar unseren eigenen Mangel an Liebe zu lieben.“

Mit dieser ungewöhnlichen Aufzählung regt Pippo Delbono in seiner neuesten Produktion Amore zur Liebe an. Die ins Mikrofon gesprochenen Worte stammen unter anderem von Carlos Drummond De Andrade, Eugénio De Andrade, Jacques Prévert, Rainer Maria Rilke. Von überall im Theatersaal strömt Delbonos hypnotische Stimme. Bitter, zärtlich, fiebrig, deprimiert, mysteriös. Dasselbe gilt auch für die Bühne, die in einer ebenso geheimnisvollen, roten Farbe gehalten ist. Ein alleiniger weißer Baum ragt auf der leeren Bühne zur Decke empor. Das Rot spricht von der Fado-Musik, die in ein Blutmeer des Leidens verwandelt wird. Die Liebe, die über den Tod hinausgeht, nimmt die Form eines ausgetrockneten Baumes an. Dieses einprägsame visuell-akustische Bild habe ich vom Theater Palamostre in Udine mitgenommen.

Die Auftritte des bekannten italienischen Künstlers gehen über den Theaterbereich hinaus. Pippo Delbono ist eine Welt für sich. Eine Welt, die er mit Großzügigkeit auf der Bühne offenbart. Jede Wunde, jeder Schmerz, das Leiden, die Depression, der Tod, die Intimität. All das wird in einer zugleich ausgefallenen und wunderschönen Performance über Leben und Tod auf die Bühne gebracht. Seine Shows resultieren normalerweise aus einem schockierenden Ereignis. Das Publikum wird Zeuge einer in die Geschichte verstrickten Biografie. Der Künstler schafft es, den Zuschauern ein Gefühl von Freiheit, Improvisation, Unberechenbarkeit zu vermitteln, aber niemals zufällig, alles ist gut durchdacht.

Amore ist ebenfalls aus einem Schock geboren: dem Tod eines geliebten Menschen. Und aus der Depression, die die Pandemie verursachte. Portugal ist der Ausgangsort, an dem Pippo Delbonos Suche auf den Spuren eines Wortes beginnt: Die Liebe, die nicht nur ein Gefühl, sondern auch ein Seelenzustand ist. Ein echtes Zahnrad des menschlichen Organismus, das alles bewegt, zum Zusammenstoßen bringt und neu aufbaut, alles was wir sehen, fühlen und wonach wir uns sehnen.

Amore ist eine musikalisch-poetische Reise durch eine äußere Geografie – neben portugiesischen Künstlern treten auch Musiker und Tänzer aus Angola und Kap Verde auf – und eine innere Geografie, jene der Seele. Die traurige Fado-Musik klingt einmal wie der Takt einer Parade, dann wie eine langsame Prozession, göttlich gesungen von Aline Frazao, Pedro Jóia und Miguel Ramos. Was diese gefühlsbetonte Show zusammenhält, sind der Gesang und die Musik, die Stimmen und die Stille. Abwesenheit, Distanz und Nostalgie sind die Hauptdarsteller.

Die Auftritte von Pippo Delbono erzeugen im 21. von Technologie geprägten Jahrhundert beim Zuschauer eine Katharsis. „Das Theater ist banal geworden. Die Welt ist banal geworden“, sagte Pippo Delbono vor einigen Jahren auf einer Konferenz. „Wir haben etwas Wesentliches verloren. Wir haben exklusive Kulturen geschaffen, die keine Alternativen mehr bieten. Ich bin kein Revolutionär. Aber die Kunst ist sehr gealtert.“ 

Elegant in einen weißen Anzug gekleidet, erhebt sich der Künstler von seinem Tisch, von wo aus seine Stimme das Publikum bezauberte, und geht auf die Bühne zu. Er legt sich langsam auf den Boden unter den weißen Baum. Die Rhythmen des Fado schließen die berührende Geschichte ab. Nach Amore fühlt man sich glücklich. Denn eine Stunde lang ließ man sich auf den Wellen eines roten Meeres treiben.