Die Kartoffelesser (c) Andrea Avezzú_Courtesy La Biennale di Venezia
Die Kartoffelesser (c) Andrea Avezzú_Courtesy La Biennale di Venezia

Spielräume der Fantasie

 (12. Juni 2025)

 

Irina Wolf

 

Völlige Dunkelheit herrscht in den gespenstisch leeren Räumen auf Lazzaretto Vecchio, der kleinen Insel in der Lagune von Venedig südlich der Stadt, gut 50 Meter westlich des Lido. In diesem ehemaligen Krankenhaus für Pest und Lepra lud Romeo Castellucci zu seiner neuen Arbeit Die Kartoffelesser ein. Unsere 30-köpfige Gruppe folgt zögernd dem schwachen Licht einer Taschenlampe. In den ersten zwei Räumen bietet sich uns der beunruhigende Anblick zuckender Körper verschlossen in schwarzen Leichensäcken. Erst im letzten Raum entfaltet Castellucci seine visuelle und auditive Kunst. Das Licht erlischt, und in der Dunkelheit bläst uns stehenden Besuchern ein wütender Wind entgegen. Dann materialisiert sich unter flackerndem Licht eine kopflose geflügelte Statue. Eine Gruppe von Bergarbeitern bringt einen Leichensack mit, aus dem eine nackte, nur mit weißem Pulver bedeckte Frau hervorkriecht. Sie gibt unerkenntliche Laute von sich. Die Szene ist ebenso rätselhaft wie verblüffend. Castelluccis schlägt eine Brücke in die Gegenwart jener in schwarzen Säcken eingeschlossenen Körper, die sich in die jüngste Erinnerung an das Pandemie-Drama eingeprägt haben. Und doch lässt der italienische, weltweit bekannte Regisseur jedem die Interpretation frei. Es gelingt ihm auch dieses Mal, ein unvergessliches Erlebnis zu schaffen.

Symphony of Rats (c) Andrea Avezzú_Courtesy La Biennale di Venezia
Symphony of Rats (c) Andrea Avezzú_Courtesy La Biennale di Venezia

Diese ortsspezifische Installation war eindeutig einer der Höhepunkte der 53. Ausgabe der Theaterbiennale, die in Venedig vom 31. Mai bis zum 15. Juni stattfand. Für sein erstes Jahr als künstlerischer Leiter des internationalen Festivals hat Hollywood-Schauspieler William Dafoe Künstler ausgewählt, die er kennt und bewundert. Dabei griff er auf seine zehnjährige Tätigkeit als Mitbegründer der legendären New Yorker Avantgarde-Theatergruppe The Wooster Group zurück. Unter dem Motto "Theater ist Körper. Körper ist Poesie" rückte Dafoe experimentierfreudige Theatermacher wieder ins Rampenlicht, die ihn bei der Theaterbiennale 1975 in Venedig geprägt haben. So zeigte beispielsweise Symphony of Rats der Wooster Group in der Regie von Kate Valk und Elisabeth LeCompte (Gewinnerin des Goldenen Löwen 2025 für ihr Lebenswerk), wie vorausschauend die Theatergruppe Technologie einsetzt. In diesem 1988 von Richard Foreman geschriebenen surrealen Stück verliert ein fiktiver US-Präsident den Verstand. Er glaubt, Botschaften aus dem Weltall zu erhalten. Viele davon werden durch ein verspieltes Videodesign auf der Bühne dargestellt. Mit Bildschirmen, Drähten und schwebenden Bällen sieht es so aus, als wäre der Anführer im Labor eines verrückten Wissenschaftlers gefangen, in der Realität und Fantasie zunehmend verschwimmen. Die Geschichte ist offensichtlich ein Vorwand und entzieht sich jeder erzählerischen Logik. Sie enthält explizite Verweise auf mehr oder weniger bekannte Filme, Fernsehserien und Bildzitate und vermittelt eine Komplexität, die direkt proportional zu den Objekten auf der Bühne ist und zur Fähigkeit der Schauspieler, nahtlos mit den digitalen Elementen zu interagieren. Eine Hymne auf die Absurdität unseres Lebens. 

Hamlets Wolken (c) Stefano di Buduo
Hamlets Wolken (c) Stefano di Buduo

Hamlets Wolken der berühmten dänischen Theatergruppe Odin Teatret, geleitet vom 88-jährigen italienischen Regisseur Eugenio Barba, behandelte das väterliche Erbe und die Möglichkeit der jungen Generation, sich von der Aussicht auf blutige Rache zu befreien. Ein siebenköpfiges Ensemble erzählt die Geschichte von Shakespeares „Hamlet“ mit Tanzschritten, Gesang und einer ermüdenden Menge an Geschrei neu. Wenn die Erzählerin mehrmals mit einer Schaufel auf den Boden schlägt, lässt es einen erschaudern. Es fühlt sich an wie ein Ritual. Für den mehrsprachigen Text gab es keine Untertitel. Da Ofelia von einer rumänischen Schauspielerin verkörpert wurde, war dies ein Riesenvorteil für mich als Muttersprachlerin in Rumänisch. Noch dazu verwendet die Regie sich wiederholende rumänische Klagelieder, die für ein nicht Rumänisch sprechendes Publikum unverständlich bleiben. Barbas Produktion ist aggressiv angelegt, denn, wie es im umgeschriebenen Text heißt: „Hamlet ist nicht der Wahnsinnige. Die Welt um ihn herum ist aus den Fugen geraten.“ Lässt man die Emotionen beiseite, ist Hamlets Wolken durchaus eine treffende Reflexion über die Gesellschaft im Jahr 2025.

Des Weiteren waren zahlreiche renommierte Namen von Theatermachern wie Thomas Ostermeier, Antonio Latella oder Milo Rau im Festivalprogramm vertreten. Letzterer stellte sein neuestes Werk vor: Die Seherin. Eine Kriegsfotografin, die vergewaltigt wird und ein Iraker, dem der IS die Hand abgehackt hat: Milo Raus Inszenierung, die ihre Premiere bei den Wiener Festwochen 2025 gefeiert hatte, verbindet zwei Schicksale zu einem eindringlichen Erzähldrama. Nicht umsonst wurde Protagonistin Ursina Lardi bei der Theaterbiennale mit dem Silbernen Löwen gekrönt. 

Call me Paris (c) Andrea Avezzú_Courtesy La Biennale di Venezia
Call me Paris (c) Andrea Avezzú_Courtesy La Biennale di Venezia

Die Zukunft ist in guten Händen

Gleichzeitig legte William Dafoe Wert auf aufstrebende Ensembles und Regisseure, die den Körper des Schauspielers in den Mittelpunkt ihrer kreativen Arbeit stellen. „Ich wollte mich auf das Wesentliche konzentrieren: die Bühnenpräsenz, die die Zuschauer begeistert und Räume der Fantasie öffnet“, steht in den üppigen, sehr gut aufbereiteten Programmbüchern. Regisseurin Yana Eva Thönnes ist ein Paradebeispiel. Der geschändete und bloßgestellte Körper ist Thema ihrer Weltpremiere Call Me Paris. Darin verknüpft die Künstlerin zwei fragmentarische Geschichten: ihre eigene und die von Paris Hilton, Erfinderin des Selfies und erzwungenen Protagonistin des von ihrem Ex-Freund veröffentlichten Sexvideos „1 Night in Paris“. In diesen „Theater-Memoiren“ erinnert sich Thönnes daran, wie sie als Teenagerin in der deutschen Provinz Paris genannt wurde, weil sie wie Hilton aussah, und geht der Frage nach, wie die frauenfeindliche Kultur der 2000er-Jahre ihrer beider Leben geprägt hat. Visuell ist Thönnes' Arbeit schlicht und wirkungsvoll zugleich: Ein Mann und drei Barbie-ähnliche Frauen bewegen sich um ein riesiges Bett mit rosa Satin-Spannbettlaken. Wenn Gewalt droht, verstecken sie sich darunter. Als attraktive junge Blondine zieht die Schauspielerin, die Thönnes verkörpert, ungewollte sexuelle Aufmerksamkeit auf sich, die Hilton zunächst genießt, bevor sie offenbart, welchen Tribut dieses Interesse an ihr fordert. Der Körper wird zum Instrument, zum leblosen Objekt, an dem man seine Fantasien ausleben kann. Call Me Paris fängt zugleich den Schaden ein, den die Promikultur bei Mädchen anrichten kann. Poetisch wirkt am Ende nur die Fee, die vor dem Bett stillsteht, während der Körper des Mannes auf dem Bett flach liegt. Sie vermittelt den Eindruck einer dramatischen Intervention, deren Vollendung dem Publikum überlassen bleibt. 

Golem_und Dreck ist die Welt (c) Andrea Avezzú_Courtesy La Biennale di Venezia
Golem_und Dreck ist die Welt (c) Andrea Avezzú_Courtesy La Biennale di Venezia

Als etablierte Ausbildungsstätte für kreative Talente von morgen bestätigte die Biennale College Teatro auch dieses Jahr ihre Wichtigkeit im Rahmen des Festivalprogramms mit drei neuen Arbeiten von Künstlern unter 40 Jahren. Regisseurin, Marionettenspielerin und Dramatikerin Mariasole Brusa war die Gewinnerin der Regieausschreibung 2024-25. Ihre Produktion Golem_und Dreck ist die Welt mischt gekonnt Puppentheater mit Archivmaterialien und Film. Mit wunderbar leichten, verspielten und dabei bildstarken Szenen erzählt Brusa die Golem-Legende und das Überschwemmungstrauma in der Emilia-Romagna-Region des Jahres 2023. Eine symbolische gelungene Überlegung über das Verhältnis Mensch-Natur. Biennale College schlug auch geeignete Workshops vor, die unter anderem von Meistern wie Eugenio Barba and Julia Varley, Thomas Richards, Davide Carnevali gehalten wurden. Konferenzen und ein „Spazio Cinema“ gewidmet Dokumentarfilmen der beim Festival anwesenden Künstler, „um den Dialog zwischen Theater und Kino zu fördern und zu pflegen“, ergänzten das Festivalprogramm.


Kein Gut ohne Böse, kein Weiß ohne Schwarz (Biennale Teatro Venezia 2024), im Aurora-Magazin, 20. August 2024.